BERLIN ist ein großer Apfel

Berlin ist eine Metropole? Ja. Aber das liegt nicht an den Menschen der neuen Mitte. Sondern an den Konsumenten und Glücksrittern, die aus dem Osten in die Hauptstadt kommen. Eine Liebeserklärung

von UWE RADA

Das neue Berlin. Sie stehen am Großen Stern in Tiergarten, am Halleschen Tor in Kreuzberg oder an der Elsenbrücke in Treptow. Sie brauchen nichts als einen Eimer voll Spülwasser und einen Gummiwischer. Wenn die Ampeln von Grün auf Rot springen, suchen sie Blickkontakt mit den Autofahrern, dann geht alles wie von selbst. In Sekundenschnelle werden die Autoscheiben eingeseift, trocken poliert, und noch bevor die Ampeln wieder auf Grün springen, ist das Geschäft gemacht. Ein paar Groschen, ein Dankeschön, Verschnaufpause bis zur nächsten Rotphase, der Nächste bitte. Das ist der Rhythmus der neuen Selbstständigkeit auf den Hauptstraßen Berlins.

Es sind vor allem junge Polen, die der Job des Autoscheibenwäschers nach Berlin gebracht hat. Meist stehen sie in Gruppen an den Kreuzungen, einige arbeiten, andere sitzen auf dem Mittelstreifen und trinken Bier. Vor allem in den Sommermonaten ist das Geschäft ganz einträglich. Dann hoffen die Scheibenwäscher genug zu verdienen, um die lange ersehnte Reise durch Europa antreten zu können. Eine Hoffnung, die sich wie eine frohe Kunde nach Polen verbreitet.

Läuft das Geschäft gut, machen sich aus Warschau, Białystok oder Łódż die nächsten Scheibenwäscher auf den Weg. Es ist einer der typischen Migrationspfade im mobil gewordenen Europa, den sie beschreiten, und Berlin, die für sie nächstgelegene Metropole des Westens, ist ihre erste Etappe.

„Es gibt keine bessere Perspektive, die Welt zu betrachten als Berlin Mitte.“ Mit diesem Slogan wirbt eine Berliner Talkshow um Zuspruch. Das „neue Berlin“, so lautet die Botschaft eines geografischen Missverständnisses, zeige sich am Hackeschen Markt, am Potsdamer Platz, in der Friedrichstraße; diejenigen, die Berlin so hip und trendy machen, seien die Existenzgründer der New Economy, die Medienleute, die „Jungen“ und „Kreativen“.

Doch welche Welt ist es, die sich aus der Perspektive von Berlin Mitte betrachten lässt? Ist es die der polnischen Pendler, die jedes Wochenende aus Kostrzyn, Poznań oder Zielona Góra am Bahnhof Lichtenberg oder am Ostbahnhof ankommen? Sind es die 130.000 polnischsprachigen Berliner, die Verbindung halten zu ihrer Heimat und ein Netz um die deutsche Hauptstadt spannen, das bis nach Gdańsk reicht, nach Wrocław oder Bydgoszcz?

Sind es die hunderttausend Russlanddeutschen, die kroatischen Putzfrauen, die baltischen Touristen, die jungen Künstler aus Sankt Petersburg? „Was erwartet uns hinter dem Tor?“, titelte zu einem Foto des Brandenburger Tors vor einiger Zeit das polnische Magazin Polityka. Die Antwort lautet: eine deutsche Hauptstadt, die schon lange vor der Osterweiterung der Europäischen Union eine Metropole des Ostens geworden ist.

Berliner Osten. Jede europäische Stadt hat ihren Osten. In London gibt es das East-End, in Paris das vermeintliche Belleville. In Warschau ist der Osten gleichbedeutend mit dem östlich der Weichsel gelegenen Praga, jenem Stadtteil, in dem „Polen B“ beginnt, das Armenhaus des Landes. Im Jahrhundert der industriellen Urbanisierung war der Osten wegen des in Europa vorherrschenden Westwindes zumeist der Standort der Fabriken und Schlachthöe. Hier fanden sich auch die Mietskasernen, die Wohnquartiere der Arbeiter und Armen.

Im Osten rauchten die Schornsteine, und der Qualm verdunkelte manchmal schon am Tage den Himmel. Im Westen fällt dagegen das Sonnenlicht auf die roten Dächer der Bürgerhäuser und Villen und taucht die Stadt in ein sanftes Licht. Im Osten gibt es wenig Grün und Bäume. Im Westen von Paris und Warschau liegen der Bois de Bologne und der Łazienkipark.

In Berlin war der Gegensatz zwischen Ost und West schon zur Metapher geworden, bevor die Stadt geteilt wurde. Spätestens seit der Abwanderung des Großbürgertums in Richtung Kurfürstendamm avancierte der „Berliner Osten“ mit seinen galizischen Juden, den mittellosen russischen Emigranten und der Halbwelt zum Hinterhof des „neuen Westens“. „Die Menschen, die in dieser endlos grauen Straße wohnen, haben einen starken und ausschweifenden Geschmack“, schrieb Otto Alfred Palitzsch 1928 in einer Zeitungsreportage über die Große Frankfurter Straße im Berliner Osten. „Sie lieben die ungewöhnlichen Formen. Sie entschädigen sich für ihren trübseligen Alltag durch einen ewigen Jahrmarkt. Durch die große grandiose Werkschau der Anzüge und Kleider, durch das Karussell der Schuhe, durch die Würfelbuden und Bijouterien. Dinge, die wir längst vergessen glaubten, sind noch am Leben.“

Basar in Treptow. Zum Beispiel: alte Toaster, Fotokameras in „Originalverpackung“, Mischbatterien und Duschköpfe, alte Telefone, gebrauchte Kinderwagen und „italienische Schuhe“, Töpfe, Pfannen, Kasserollen, in jeder Größe und Preisklasse. In den „Treptower Hallen“, einer ehemaligen Werkstatt für Busse der Ostberliner Verkehrsbetriebe, gibt es nichts, was es nicht gibt. Es ist der „ewige Jahrmarkt“, den Otto Alfred Palitzsch beschreibt, nur dass inzwischen siebzig Jahre vergangen sind.

Berlin hat am Ende des vergangenen und zu Beginn des neuen Jahrhunderts wieder Verbindung aufgenommen zum Osten des Kontinents. Der Basar in Treptow beweist es; er kommt einem Schauspiel gleich, wie es orientalischer nicht sein könnte. Händler aus dem Balkan, der Türkei, dem Nahen Osten, Osteuropa, Mittelasien und Fernost bieten in einem scheinbar unendlichen Labyrinth aus Ständen und Gassen all die Waren feil, die man auch auf dem „Jarmark Europa“ im Stadion von Praga, dem Basar von Przemyśl an der polnisch-ukrainischen Grenze oder dem „Markt am siebten Kilometer“ in Odessa findet.

Aber auch die Käufer haben sich geändert. Es sind nicht mehr nur Türken, Touristen und neugierige Berliner, die sich im Stop and go durch die Reihen schieben, sondern auch Albaner, Kasachen, Ukrainer, Russen, Polen, Letten, Litauer, Rumänen oder Bulgaren. Berlin, das ist in Treptow unübersehbar und unüberhörbar, ist eine Grenzstadt zum Osten.

Der Blick nach Westen. In seinen „Neun Notaten zu einer Stadt, die sich nie fremder war als heute“, notiert der Architekturkritiker und Publizist Wolfgang Kil eine Begebenheit, die typisch ist für die Blickverhältnisse in Berlin. Von Charlottenburg an einen der neuen Standorte der New Economy nach Friedrichshain gezogen, zeigte die Direktorin eines renommierten Designinstituts in ihrem neuen Domizil in der Oberbaumcity in Richtung Ostbahnhof. „Nur zehn Minuten zu Fuß“, freute sie sich über den Anschluss an die Welt, „und dann mit dem Zug alle Stunde nach Hannover! Nach Frankfurt! Nach Paris!“

„Natürlich“, schreibt Wolfgang Kil, „hatte sie Frankfurt am Main gemeint. Bis zur Grenzstadt gleichen Namens an der Oder würde ihre persönliche Landkarte gar nicht reichen.“ Wie überhaupt ihr der Gedanken noch nicht gekommen sei, dass Berlin eher eine Stadt mit ost- als westeuropäischen Akzenten sein könne. „Und wenn er denn eines Tages käme“, mutmaßt Kil, „vermutlich würde dieser Gedanke sie bis ins Mark erschrecken.“

So ist das mit der Perspektive des „neuen Berlin“, und so war es schon immer. In der „westlichsten Stadt des Ostens“ und „östlichsten Stadt des Westens“ sind es die Einwanderer, die Berlins Position im neuen Europa definieren. Für alle anderen gilt – und galt: Wo der Osten beginnt, schwindet die Wahrnehmungsbereitschaft des Westens. „Es ist kein Zufall, dass der Weg durch die feuilletonerzeugte Topografie Berlins hier endet“, schreiben die Literaturwissenschaftler Christian Jäger und Erhard Schütz in ihrer Arbeit über die Berlinfeuilletons der Weimarer Republik über den Alexanderplatz. „Was von den gelegentlichen Expeditionen dorthin berichtet wird, steht im Odium von Exotik und Gefahr.“

Kreuzberg des Ostens. Wer vom Bahnhof Lichtenberg kommend in Marzahn aus der S-Bahn steigt, findet sich im russischen Berlin wieder. Vierzehntausend Russlanddeutsche und ihre Familienangehörigen haben sich in den vergangenen Jahren zwischen der Allee der Kosmonauten und der Havemannstraße niedergelassen. Und sie haben begonnen, sich im öffentlichen Raum von Marzahn bemerkbar zu machen. Bereits an den S-Bahnhöfen findet man kyrillische Hinweisschilder, im Bezirksamt am Helene-Weigel-Platz liegen russische Faltblätter aus, zu den vietnamesischen Läden und Händlern haben sich russische gesellt.

Fernab der alten Heimat hält man die Erinnerung wach mit Piroggen, Pelmeni und Mischkakonfekt. Und man rückt zusammen. „Es gibt sie, die senkrecht stehenden Dörfer und die langen Straßenzüge, wo man sich untereinander kennt, von wo aus man nach Kasachstan schreibt, und wo die, die nachkommen wollen, auch hinziehen möchten“, meint die Berliner PDS-Abgeordnete Steffi Schulze.

Marzahn, für Westberliner noch immer der Inbegriff von Plattenbautristesse und rechten Jugendbanden, ist in Wirklichkeit der Einwanderungsbezirk des Berliner Ostens geworden. Mit dem „neuen russischen Berlin“ verhält es sich nicht anders wie mit dem „neuen Berlin“. Nicht im Café Pasternak oder im Russischen Kammertheater in Prenzlauer Berg liegt das russische Berlin, sondern weit draußen im Osten, zwischen Allee der Kosmonauten und Havemannstraße. Oder in Lichtenberg, dort, wo die Züge aus Moskau, aus Kiew oder dem kasachischen Akmola ankommen.

Doch Marzahn ist mehr als die Ankunfts- oder Endstation für russlanddeutsche Aussiedler. Marzahn ist ebenso ein Laboratorium für neue Randerfahrungen, Lebensentwürfe und kulturelle Praktiken. In den Havemannpassagen haben Vietnamesen längst schicke Boutiquen eröffnet, und die türkischen Imbissbetreiber haben sich auf die russische Kundschaft eingestellt und bieten Wodka in Literflaschen an. Marzahn, unverkennbar, ist das „Kreuzberg des Ostens“ geworden. „Berlin Babylon“ spielt nicht in Mitte, sondern an den östlichen Rändern der Stadt.

Berliner Barbaren. Wo hört der Westen auf? Wo beginnt der Osten? Für manche ist die Frage allenthalben geklärt. Dem Architekturkritiker Michael Mönninger gilt der Alexanderplatz bereits als „Vorposten der Mongolei“. Für den Westberliner Stadtplaner Dieter Hoffmann-Axthelm wiederum beginnt am Alex der „graue, proletige, osteuropäische Osten, den man schon gar nicht mag“.

Wer aus der Perspektive des Hackeschen Marktes nach Westen blickt, sieht die Stadt eben anders als jene, die von Osten kommen. Und er reagiert anders. Wer sich vor dem Osten ekelt, hat ein „kulturelles“ Repertoire, auf das er zurückgreifen kann: das Begriffspaar von der „Zivilisation“ und der „Barbarei“. Schnell ist dann von einer „Migrantenflut“ aus dem Osten die Rede, vor der man sich abschotten müsse.

Und von den „neuen Barbaren“. Die tauchen, wie es der französische Politologe Jean-Christophe Rufin beobachtet hat, als Figur der Bedrohung immer dann auf, wenn sich im Westen selbst unverkennbare Brüche abzeichnen. Man kann es auch anders sagen: Je östlicher der Westen wird, desto unverhohlener die Versuche, neue Grenzen, neue Mauern zu bauen.

Doch alle Versuche, die Lage der Stadt zu leugnen, alle Unternehmungen, die unverkennbar östlichen Räume der Stadt mit einer Legolandarchitektur zu „urbanisieren“, alle Versuche also, die Flucht, je nach Gusto, in den Westen oder in die Vergangenheit anzutreten, werden nichts nutzen.

Gegen die geografische Realität einer Stadt kann man nicht anbauen. Berlin ist nicht gediegen wie Paris oder cool wie London. Berlin ist eine Stadt der Glücksritter, rau, riskant und unsicher, ein Schmelztiegel.

Berlin ist mehr Saloon als Salon. Wenn man in Berlin schon nach Westen schauen will, warum dann nicht gleich zum Big Apple – nach New York?

UWE RADA, 38, arbeitet in der Berlinredaktion der taz und beschäftigt sich dort mit den Berliner Beziehungen zu Osteuropa. Soeben ist im Basisdruckverlag (Berlin 2001, 248 Seiten, 38 Mark) sein Buch „Berliner Barbaren – Wie der Osten in den Westen kommt“ erschienen