Das Glück der Autosuggestion

Probleme schöner Seelen: Mit „No More Drama“ holt Mary J. Blige den R ’n’ B zurück in den Soul. Die Technik ordnet sich ihrer Stimme unter, der Titel suggeriert Kontrolle über das eigene Leben. In ihrem Fahrwasser finden nun auch andere Soulstimmen wie die von Syleena Johnson hier zu Lande Gehör

Die Stücke ließen komplexe Breakbeats auf einfache Gesangslinien treffen

von TOBIAS RAPP

Man glaubt es kaum: Sollen wir veralbert werden? Ausgerechnet „No More Drama“ lautet der Titel der neuen Platte von Mary J. Blige, der notorischen Dramaqueen, gefürchteten Interviewpartnerin und Konzertabsagerin. Geht das? Und wenn ja, wie? Kann jemand wie Mary J. Blige, deren Platten bisher vor allem um ihr individuelles Drama kreisten, ausgerechnet ohne das auskommen, was bisher im Mittelpunkt ihres Schaffens stand?

Die Karriere von Mary J. Blige war von ihrem Beginn in den frühen Neunzigern an durch eine merkwürdige Doppelung gekennzeichnet. Auf der einen Seite galt sie als glaubwürdig wie keine zweite, mitunter wurde sie auch als innovativ gehandelt. Auf der anderen Seite bewegte sich das, was sie machte, im Rahmen der Vorgaben afroamerikanischer Rollenmodelle.

Vielleicht hatte das damit zu tun, dass sie nach ihrem Debütalbum „What’s the 411“ zur Queen des HipHop-Soul gekürt wurde, der Verschmelzung zweier Genres, die bis dato nebeneinander existiert hatten. Das hatte aber mehr mit der Cleverness ihres damaligen Produzenten Sean „Puffy“ Combs und mit dem Respekt zu tun, den sie in der HipHop-Community genoss, als mit ihrer Musik. Zwar trat sie als Gastsängerin bei diversen Rappern auf, aber ihre eigenen Platten waren genuine Soulmusik. Mehr noch: Wer bei Mary J. Blige nach Songs über Empowerment, Selbstbewusstsein und das Frausein in den Neunzigern suchte, der konnte lange warten: Sie stand für ein ganz bestimmtes, historisch tradiertes afroamerikanisches Modell von Sängerin.

Erykah Badu mochte sich anhören wie Billie Holiday, Mary J. Blige war Billie Holiday. Die Stücke ihrer Alben handelten fast ausschließlich davon, von Männern abhängig zu sein, von ihnen missbraucht und manchmal auch misshandelt zu werden, davon und keinen Ausweg zu wissen und fürchterlich unglücklich zu sein. Und das war bitterer Ernst. Mary J. Blige reflektierte auf ihren Platten nur ihre eigene Lage. Sie hatte ein Alkoholproblem, einen unfairen Plattenvertrag, ihre Männer behandelten sie schlecht. Ihre Platten hießen „Share My World“ und „My Life“, und trotzdem – oder gerade weil – sie sich und ihr Leiden so sehr ins Zentrum rückte, konnte man ihr nie ins Auge blicken. Immer trug sie Sonnenbrillen.

Das volle Billie-Holiday-Programm: Die missbrauchte, misshandelte und abgebrannte Frau versteckt ihr privates Leiden hinter Sonnenbrillen und kleidet es in Pelzmäntel, um es auf der Bühne oder auf Platte in die Öffentlichkeit zu tragen. Ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt, denn das eine stützt das andere. Auf „Mary“, ihrer letzten Platte, deutete sich dann die Wende an. Auf dem Cover rückte Mary J. Blige eine Narbe unter dem linken Auge ins Blickfeld, und bat ihren Exfreund K-Ci Jodeci zum Duett, um all die Jahre des Betrogenwerdens noch einmal aufzuarbeiten.

So großartig diese Platten samt und sonders waren – sie zogen ihre Qualität nicht daraus, dass hier die Musik revolutioniert wurde oder der Breakbeat neu erfunden: Es war Soul Music, Seelenmusik. Mary J. Bliges Stimme stand im Zentrum, der Rest hatte sich ihrem Ausdruck unterzuordnen. Und das ist das Besondere an „No More Drama“: Obwohl all die ganzen State-Of-The-Art-Cyber-R-’n’-B-Produzenten ihre Finger an den Reglern hatten, ordnen sie ihre Musik auch hier Mary J. Bliges Stimme unter. „No More Drama“ holt den R ’n’ B zurück in den Soul.

Auf den ersten Blick sieht das nach einer uninteressanten Spezialistenfrage aus, aber das ist es nicht. Denn es signalisiert das vorläufige Ende des Futurismus in der schwarzen Musik. Wollte man eine kurze Geschichte der Innovation in der schwarzen Musik schreiben, könnte man sagen, dass HipHop durch die Isolierung des Breakbeat die Musik auf einen bis dato ungeahnten Abstraktionslevel hob. Auf einmal entstand Musik aus Bits ’n’ Pieces anderer Musik. Je leistungsfähiger die Sampler wurden, desto komplexer wurden diese Strukturen. An einem gewissen Punkt wurde diese Musik so abstrakt, dass die Beats sich nicht mehr mit der Kunstform des Rappens vertrugen, weil die repetitive Struktur des Sprechgesangs mit den Rhythmen zu sehr um Aufmerksamkeit buhlte. Gesangslinien mussten her. Das war die Geburt des Cyber R ’n’ B, wie ihn Timbaland, Missy Elliott oder Rodney Jerkins produzierten.

Auch wenn sich diese Musik nicht so anhörte: Sie war bereits in der Defensive, denn die Stücke lebten genau davon, einen komplexen Breakbeat auf eine recht einfache Gesangslinie treffen zu lassen, die dann vielleicht noch digital nachbearbeitet wurde, um einen futuristischen Klang zu generieren. Auch wenn die Stimmen vor allem einen Kontrapunkt zu den darunter liegenden Rhythmen lieferten – ohne die Sängerinnen funktionierten diese Stücke bereits nicht mehr. Ihre Qualität bezogen sie dadurch, dass sie das Format des klassischen Soulsongs mit der Rhythmik wild gewordener Computer konfrontierten.

Doch das scheint nun an ein Ende gelangt zu sein. Mit „No More Drama“ übernimmt wieder der individuelle Ausdruck der Stimme die Regie. Und das koinzidiert auf schönste Weise damit, dass Mary J. Blige anscheinend die Kontrolle über ihr Leben zurückgewonnen hat und sich vor allem den positiven Seiten des Lebens widmet. Selbst wenn sie über PMS singt – eine wunderschöne Coverversion des Al-Green-Klassikers „Simply Beautiful“ von 1972, die sie bis zum „ahaa“ detailgetreu nachstellt –, handelt das Stück vor allem davon, dass dies nur „one of these days“ ist und kein Synonym dafür, dass alles im Eimer ist.

So oft wie Mary J. Blige die Zeilen „no more drama in my life“ wiederholt oder in einem anderen Stück in einem fort „gotta be happy, finally happy“ singt, hat das zwar starke Momente von Autosuggestion. Trotzdem durchzieht ein beglückendes Gefühl von Mir-geht-es-prima die ganze Platte. Dazu passt, dass Blige angekündigt hat, eine eigene Girlgroup produzieren zu wollen: die Mary Jane Girls.

Vielleicht ist „No More Drama“ aber auch einfach nur der Versuch, Soul für jüngere Käuferschichten zu öffnen. Denn eigentlich ist Soul ja genuine Erwachsenenmusik. In Deutschland mag das mitunter anders aussehen, weil vor allem junge Gesichter wie etwa Alicia Keys auf den hiesigen Markt geworfen werden. In den USA funktioniert Soul aber vor allem in einem historischen Kontinuum, das bestimmte Formen entwickelt hat, in denen man, klinkt man sich ein, sein Seelenleben spiegeln kann.

„Chapter 1: Love, Pain & Forgiveness“ von Syleena Johnson oder „Your Woman“ von Sunshine Anderson hätten, so paradox das scheint, wahrscheinlich nie das Licht der deutschen Plattenläden erblickt, wenn Soul und R ’n’ B nicht gerade – ob ihres frischen und jugendlichen Images – in der Lage wären, über Wochen die Nummer eins der deutschen Charts zu besetzen. Syleena Johnson ist die Tochter des Soulsängers Sly Johnson, der in den späten Sechzigern und frühen Siebzigern im Windschatten von Al Green die eine oder andere wunderschöne Platte vollsang. Nebenbei zeugte er eine Reihe von Töchtern, die tatsächlich Syleena, Sylette und Syleecia heißen (von Söhnen ist im Booklet nicht die Rede, es gibt aber noch eine Cousine namens Sylvonna).

Sunshine Anderson ist ausgebildete Juristin, die ihren Job in einer Washingtoner Behörde aufgab, um einen Abschnitt ihres Lebens einer Musikkarriere zu widmen. Beide Sängerinnen sind Mary J. Blige viel näher als etwa der Sängerin Aaliyah. „Chapter 1: Love, Pain & Forgiveness“ etwa erzählt vom Aufstieg und Fall einer Beziehung, und auch „Your Woman“ handelt von den Erlebnissen und Erfahrungen, die das Leben als erwachsener Inner-City-Bewohner so mit sich bringt. Die musikalische Begleitung hält sich im Hintergrund und begleitet die Stimmen. Die europäische Entsprechung für diese Musik sind wahrscheinlich die Romane von Michel Houellebecq oder Peter Handke, mit dem Unterschied, dass diese beiden davon ausgehen, ohnehin nur noch Zugriff auf höchst verformte Restbestände von Seele zu haben. Die Musik von Syleena Johnson, Sunshine Anderson und Mary J. Blige dagegen verhandelt die konkreten Probleme ganz konkreter schöner Seelen.

Mary J. Blige: „No More Drama“ (MCA); Syleena Johnson: „Chapter 1: Love, Pain & Forgiveness“ (Jive); Sunshine Anderson: „Your Woman“ (Atlantic)