Til Schweiger in den Knast

In Ichtersleben sitzen die halbstarken Verlierer des innerdeutschen Kulturkampfs: Rolf Teiglers Dokumentarfilm „Outlaws“ über Jugendliche, die in einem Knast in Thüringen das Drehbuch ihres eigenen Lebens schreiben

Der Regisseur Rolf Teigler hat jenes Wunder vollbracht, das im Dokumentarfilm immer wieder von neuem möglich ist: einem Ausschnitt der Wirklichkeit so viel Raum zu geben, dass er sich vor unseren Augen mit seiner eigenen Logik und der eigenen Stimme entfalten kann, um uns zu überraschen und in den Bann zu ziehen.

Wenn es gelingt, dann eröffnet die kleine Welt, der wir dort begegnen, ein Verständnis nicht nur für diese, sondern auch für die großen Zusammenhänge und Gefühle, die die Welt bewegen. So ist Teiglers Film „Outlaws“ nicht nur das Porträt einer Gruppe von Gefangenen in der Jugendhaftanstalt Ichtersleben sowie das Bild einer Generation von Jugendlichen, die in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung mit der ganzen Härte unseres innerdeutschen clash of cultures konfrontiert wurde, sondern auch ein Film über die Mythen der Jugend, über die Sehnsucht, sich über alle Regeln und Grenzen hinwegzusetzen, ohne Rücksicht auf sich selbst oder andere.

Den erzählerischen Rahmen bildet ein ungewöhnliches Projekt: Einige der inhaftierten Jugendlichen treffen sich in ihrer knapp bemessenen „Frei“-Zeit in der stillgelegten „Kinobaracke“, um an einem Drehbuch zu schreiben. Fantasievoll und ungemein unterhaltend entwickeln sie Figuren und Geschichten und verhandeln dabei spielerisch eigene Erfahrungen und Selbstbilder. In Einzelinterviews greift Teigler die entstandenen Themen wieder auf. Die Idee zum Projekt entstand, als er eine Aufführung der hauseigenen Theatertruppe besuchte und so auf die Jugendlichen aufmerksam wurde.

Wie von selbst ergibt sich für den Zuschauer dabei so etwas wie das eigentliche making of des deutsche Gangsterkinos. Angesichts der Schlagfertigkeit und Überzeugungskraft, mit der die jungen Männer über ihre kriminelle Vergangenheit reden, über die kleinen Coups und das große Geld, wirken all die Til Schweigers, Ben Beckers und Jürgen Vogels plötzlich nur mehr wie ein Abklatsch ihrer echten Kollegen. Wer beim Thema kriminelle Jugendliche im Osten Deutschlands die verstockten Gesichter und unbeholfenen Drucksereien vermutet hat, die aus so vielen Fernsehdokumentationen hinlänglich bekannt sind, der wird hier sehr überrascht sein.

Zurück in den Zellen, ohne den Druck der Gruppe, erzählen die Jugendlichen von ihrer Vergangenheit, vom Alltag im Knast, von den Hierarchien und Kämpfen der Gefangenen untereinander. Gerade dort, wo sie mit dem Witz und der Prahlerei von Halbstarken über Ängste und Demütigungen hinwegzugehen versuchen, wird die Kehrseite eines Lebens als rebel without a cause überdeutlich. „Es gibt immer einen Stärkeren“, sagt einer, „und wenn es drauf ankommt, zieh ich ihm die Rasierklinge über den Hals, und dann hat er auch nichts davon.“ Ein anderer spricht davon, dass das Leben vorbei ist, wenn man nach acht Jahren Knast wieder rauskommt. Dabei wiederholt er immer wieder „nach acht Jahren“, während er im Unterhemd im Sportraum steht, mit all der Energie seiner 23 Jahre.

In einem Interview gibt der Regisseur darüber Auskunft, wie die Arbeit an „Outlaws“ auch das Thema seines Films verändert hat. Wollte er zu Beginn vor allem zeigen, welche persönlichen Erfahrungen die Einzelnen dazu gebracht haben, sich ihren Platz in der neuen, westlichen Gesellschaft auf illegale, kriminelle Weise zu erobern, so hat er bald erfahren, dass die Vergangenheit für die Jugendlichen kaum mehr beschreibbar ist, weil die Härte der Gegenwart im Knast alles überschattet. Mit seinen behutsamen Fragen, einer komplizenhaften Kamera und der ruhigen Montage von Großaufnahmen der Gesichter und mit Bildern der Zellen, Flure und Gefängnisgebäude ist Teigler ein vielschichtiges Bild von „da drinnen“ gelungen. Vom Innern des Gefängnisses und von den Gefühlen der Jugendlichen da draußen in Thüringen.

ILKA SCHAARSCHMIDT

„Outlaws“. Regie: Rolf Teigler. 93 Min, in sechs Berliner Kinos, sie taz-filmplan