Die Leere im Inneren des Glücks

Die 25. Duisburger Dokumentarfilmwoche: von traurigen Globalisierungsgewinnern und tapferen Wendeverlierern

Die Grenzen des Dokumentarischen sind in den 90-Jahren verschwommen. Wir haben uns an Mischformen von Inszeniertem und Wirklichem und an kurze, populäre Formen wie Docu-soaps gewöhnt. Der Dokumentarfilm hat sich zur (Video-) Kunst und zum Essayistischen hin geöffnet. Eigentlich kann man heute von Rand und Zentrum des Genres nicht mehr sprechen – die Hierarchie, die sich seit den 60er-Jahren um das Direct-Cinema gebildet hatte, ist zerfallen.

Das Dokumentarische ist reicher geworden, vielfältiger, überraschender – dieser Prozess ist unschwer als Spiegelung einer zerklüfteten, individualisierten Gesellschaft zu verstehen, die aus allerlei Subsystemen besteht, aber kein Zentrum mehr hat. Die Schattenseite der Öffnung des Genres konnte man freilich dieses Jahr bei der Dokumentarfilmwoche in Duisburg beobachten: Der Blick ist weiter geworden – und unschärfer.

Im Sprechen über Dokumentarisches, traditionell eine Stärke in Duisburg, hat, plakativ ausgedrückt, Foucault Marx endgültig abgelöst – die Neigung, sehr Bedeutsames sehr vage zu sagen, ist damit nicht kleiner geworden.

In dieser schönen, neuen, bunten, experimentellen Welt des Dokumentarischen herrscht eine Neigung zum Hochgestochenen. Par excellence zeigt dies „Remote Sensing“, eine Auseinandersetzung der Schweizer Videokünstlerin Ursula Biemann mit Sexarbeit und internationalem Frauenhandel. „Remote Sensing“ ist ein typisch hybrides Produkt, das dokumentarische Bilder, feministischen Diskurs, soziologischen Kommentarsound und essayistisch-artifizielle Ästhetik vermengt.

Meist sehen wir vier Bilder gleichzeitig, doch dieser splitt screen führt nicht zu einem konzentrierten, sondern zu einem zerstreuten Blick, zu einer Art visuellem Rauschen. Das Spiel mit den Bildern enthüllt nichts, es verbirgt sie, es macht sie unverbindlich.

So sehen wir fast unentwegt Nasa-Satellitenbilder von Südostasien und anderen Gegenden – Biemann will in diesen „geschlechtslosen Blick“ von oben eine „weibliche Gegengeografie einschreiben“. Das klingt prätentiös und ist ziemlich banal. Denn der Blick von oben ist leer – kein militärischer Machtblick, eher assoziiert man Erdkundebücher. Dazu hört man NGO-Aktivistinnen aus Südostasien, ein paar Informationen, warum Vietnamesinnen nach China zwangsverheiratet werden. Aber sonderlich zu interessieren scheint das auch die Regisseurin nicht. Bieman hat in Vietnam, auf den Philippinen und an der tschechisch-deutschen Grenze gedreht. Was sie dort gesehen hat, erfahren wir nicht, nur welchen Theoriesound sie gerade bevorzugt.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass die dichten, interessanten Filme in Duisburg formalen Firlefanz beiseite ließen. „Der chinesische Markt“ von Zoran Solomun und Vladimir Blazewski zeigt Rumänen, Mazedonier und Bosnier, die früher Krankenschwestern, Verlagsangestellte und Direktoren waren. Jetzt fahren sie wöchentlich nach Budapest, wo sie von Chinesen Trash-Ware en gros kaufen.

Die Kamera begleitet sie, en passant entsteht eine mentale Skizze Osteuropas, des Bewusstseins, sich mit einem Achselzucken in einer Katastrophe einrichten. Dieser Markt ist Sinnbild der „anderen Globalisierung“: erfindungsreich, halb legal, überlebensnotwendig.

Die scheinbar funkelnde Seite der Globalisierung beleuchten Corinna Betz und Regina Schilling in „Leben nach Microsoft“, der zeigt, wovon in Budapest alle träumen: so viel Geld zu haben, um nicht mehr arbeiten zu müssen. Auch „Leben nach Microsoft“ (zu sehen am 22. Januar 2002 in Arte) ist schnörkellos inszeniert, ein Porträtfilm, der Ex-Microsoft-Programmierer zeigt, die, dank der Aktien-Explosion in den 90ern, als Millionäre die Firma verließen. Ihr Glück war Absturz, ihr Schicksal ist auch ein Exempel der Arbeitsbiografien in der New Economy. Nach dem College kamen sie in die Firma, die ihr Leben wurde. Unter 70 Stunden in der Woche arbeitete hier niemand, der Job war Mission, Microsoft eine Art postmoderner Orden: Sie, allesamt weiß, ledig, männlich, jung, talentiert, waren die Elite, Teil eines großen Wir. Heute müssen sie allen Sinn aus ihrem Ich schöpfen, das ist mühsam.

Betz und Schilling gehen mit offenem, verständigem, staunendem Blick ans Werk. Ihr Held ist Walt Moore, ein freundlicher, gemütlicher Ex-Microsoftie, der, wie viele Programmierer, nach acht Jahren ausgebrannt war. Das Arbeitstempo wird schneller, die Konzentrationsfähigkeit schwächer. Einmal führt Walt uns durch sein neues Haus: eine Villa mit zwanzig Zimmern. Er braucht nur eins davon. Wie ein verlorenes Kind sitzt er im viel zu großen Wohnzimmer, Sinnbild einer Verfehlung, eines leer drehenden Lebens.

In diesen Unglücklichen rumort ein (puritanisch grundiertes) Schuldgefühl. Sie sind der Luxusausschuss der New Economy, mentale Globalisierungsverlierer. Das Leben ohne Arbeit empfinden sie als jene Scham, die Solomuns abgewickelte Helden in Budapest selbstbewusst von sich weisen. Die Ex-Microsofties sind reich – und überflüssig. Die Erfahrung, ohne die in den klassischen Industrien kein Karriereaufstieg möglich war, zählt in den neuen High-Tech-Branchen nichts mehr, Jugend dafür alles. STEFAN REINECKE