Gewalttätige Normierung

Der Film „Das verordnete Geschlecht“ erzählt intersexuelle Biographien  ■ Von Doro Wiese

Über 200 Seiten lang ist der Schriftwechsel, den Michel Reiter von seinen ÄrztInnen überreicht bekommen hat. Nun kann er damit tun, was er will. Also verliest er ihn, im Gebirge, vor laufenden Kameras. Zerrt so ans Licht, was als Aktennotiz zirkulierte. „Acht mal zwei Zentimeter passt nicht“, steht da beispielsweise geschrieben. „Aber wir sind auf dem besten Weg, die Möglichkeit der Koha-bitation wieder herzustellen.“ Nach ärztlicher Ansicht sollte Michel Reiter eine „richtige“ Frau werden. Beischlaffähig. Mit einer Vagina, die breit genug ist für die Erfüllung des genitalen Heterosextraums.

Erreicht haben die MedizinerInnen ihr Ziel nicht. Michel Reiter schläft nicht mit Männern. Zum einen erinnert es ihn an die ärztlichen Eingriffe, die mit Dildos und anderen penisartigen Gegenständen seine Vagina zu weiten versuchten. Das hat Michel Reiter als Vergewaltigung empfunden. Zum anderen erinnern ihn Schwänze schmerzhaft daran, dass er selbst einmal einen besaß. Vor den Operationen. Denn Michel Reiter wurde intersexuell geboren, wie jedes zweitausendste Kind. Auch heute entkommt niemand der medizinisch-chirurgischen Geschlechtsnormierung. Wer als IntersexuelleR – im Volksmund Zwitter – zur Welt kommt, wird körperlich kaum eineR bleiben. Zu sehr drängen ÄrztInnen auf eine operative Veränderung der Geschlechtsmerkmale. Sie verweisen auf befürchtete Ausgrenzungsmechanismen. Die Gesellschaft steht hinter ihnen. Kaum jemand, der nicht zuerst nach dem Geschlecht eines Neugeborenen fragen würde. Wenige, die sich ein Leben jenseits der Kategorien von Weiblichkeit und Männlichkeit vorstellen können.

Dabei bietet die Geschichte von Michel Reiter – aber auch von Elisabeth Müller, die ebenfalls in dem Film Das verordnete Geschlecht zu Wort kommt –, andere Denkmöglichkeiten an. Die Angst der Eltern, das durch Operation neu gewonnene Mädchen könne plötzlich jungenhafte Züge annehmen, erweist sich als einschränkender als ein ungewöhnlicher Körper. Mit diesem kann man umgehen, mit der gesellschaftlichen Furcht vor Normüberschreitung nicht. Gleichzeitig zeigen die Biographien von Reiter und Müller, dass Intersexualität keineswegs wegoperiert werden kann. Als Spüren der Andersartigkeit, etwa durch Ausbleiben der Regel, bleibt die Besonderheit des Intersexuell-Seins bestehen. Undramatisch wäre das Ungewöhnliche, wenn es nicht den Zwang zum eindeutigen Geschlecht gäbe.

Elisabeth Müller lacht, wenn sie von ihren Gesangsstunden erzählt. „Ich sage, dass ich den Hodenstrang anspannen muss, um gut zu singen.“ Manche ihrer MitstreiterInnen im Chor schauen sie dann merkwürdig an. Aber für sie ist es wichtiger, zu sich selbst zu stehen. So zeigt Das verordnete Geschlecht auf, dass die Normierung von Körpern gewalttätig ist und man fragen sollte, ob abweichende Körper der Korrektur bedürfen. Vielleicht sind es gesellschaftliche Vorstellungen, die vielmehr der Veränderung bedürften. Und die beginnt im eigenen Kopf.

Premiere heute, 21.15 Uhr, Metropolis. Weitere Vorführungen: 23.11., Metropolis, 19 Uhr; 29.11. , Lichtmess, 20 Uhr.