Freiheit ist wichtiger als Ökonomie

Bei einem Bürgerforum in Moskau entdeckt Exgeheimdienstler Putin die Vorteile der Zivilgesellschaft für Russland. Das überrascht auch die NGOs

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Er hat den Ruf, ein Deutscher zu sein. Pünktlichkeit gehörte bisher dennoch nicht zu Wladimir Putins Tugenden. Zehn Minuten nach der Zeit erscheint der Kremlchef gewöhnlich zum Termin. Gestern zum Auftakt des Bürgerforums im Kreml-Palast machte der russische Präsident eine Ausnahme, obwohl er nicht als erster auf der Rednerliste stand. Die zweitägige Konferenz russischer NGOs eröffnete die Grande Dame der Menschenrechtsbewegung und ehemalige Dissidentin Ludmila Alexejewa im Beisein des ehemaligen Geheimdienstchefs Wladimir Putin. Wenn das keine Symbolik ist.

Rund 4.500 Delegierte aus ganz Russlands nehmen an der Veranstaltung teil, die den Dialog zwischen Gesellschaft und Staat fördern soll. Ein besonders düsteres Kapitel in der tausendjährigen Geschichte des Reiches und seiner Bürokratie, die den Bürger meist dazu verdammte, die Luft zum Atmen im gesetzesjenseitigen Raum zu suchen.

Sollte sich daran etwas ändern? Putins Rede suggerierte es zumindest. Der Staat könne nur verlieren, wenn er eine gegängelte Gesellschaft zum Partner habe, meinte der Kremlchef. Geradezu revolutionär klang die Erkenntnis, ein Land werde zuallererst am Grad seiner individuellen Freiheiten gemessen und erst danach an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Als der Präsident von der Notwendigkeit einer Gefängnisreform sprach, regte sich sogar Beifall im Saal. Nach Gerhard Schröder scheint das Kommunikationstalent Putin nun auch noch die wenigen Zweifler im eigenen Land für sich zu gewinnen. Zwischendurch entschuldigte sich Putin für rigide Kontrollen an den Eingängen, denen auch Organisatoren der Konferenz zum Opfer gefallen waren. Ein lebendiger Einwurf zum Thema Staat und Bürger.

Vielmehr sei es die Aufgabe des Staates, eine günstige Atmosphäre zu schaffen, um die erst in Ansätzen vorhandene Bürgergesellschaft in Russland zu stärken. Gleichberechtigte Beziehungen zwischen Staat und Bürger hatte noch im Entwurf seiner Rede gestanden. So weit wollte der Kremlchef unterdessen nicht gehen, er beließ es beim partnerschaftlichen Verhältnis.

Anderthalb Stunden blieb der Kremlchef im Saal. Der Eindruck, auch er sei ein nichtstaatlicher Aktivist, bestärkte sich vollends, als eine Delegierte spontan aufs Podium kletterte und Putin einen Forderungskatalog auf den Tisch legte. Kein Bodyguard regte sich. Die zivile Gesellschaft zu unterdrücken, sie lenkbar zu machen, meinte Putin, sei nicht nur unproduktiv, sondern auch gefährlich.

Indes stand genau dieses Motiv hinter dem ursprünglichen Vorhaben, eine Versammlung von NGOs in Moskau zu veranstalten. Und wie üblich kam die Initiative von oben – aus dem Kreml. Putins Polittechnologe Gleb Pawlowski hatte im Juni hundert Vertreter von eher marginalen Bürgerinitiativen versammelt. Anstoß gab die deutsch-russische Initiative zur Förderung der Zivilgesellschaften – der Sankt Petersburger Dialog. Auf die Frage der deutschen Partner, wo unter den Heerscharen von russischen Bürokraten eigentlich Vertreter der Zivilgesellschaft seien, meinte Pawlowski damals: eine solche gäbe es nicht. Also musste sie hergezaubert werden und möglichst wenig Forderungen stellen. Pawlowski plante sogleich mit den handverlesenen Delegierten eine „Zivile Kammer“, die dem Kreml als eine weitere Stütze hätte dienen sollen.

Der Protest von Menschenrechtsorganisationen wie Memorial durchkreuzte das Vorhaben indes. NGO-Aktivisten werteten das Vorgehen des Kreml dabei gar nicht mal als einen gezielten Affront. „Die Macht nimmt bei uns die Gesellschaft einfach nicht wahr“, bringt es ein NGOler auf den Punkt. In zähen Verhandlungen gelang es den Vertretern der NGOs, Inhalt und Programm der Veranstaltung zu ändern. Im Organisationskomitee saßen vom Kreml ernannte Vertreter, Pawlowskis Klientel und die Vorreiter der Zivilgesellschaft wie Memorial, das Komitee der Soldatenmütter und andere unabhängige Bewegungen. Der Gedanke, eine „Zivile Kammer“ zu gründen, wurde fallen gelassen, da sie als zu weitgehende Institutionalisierung angesehen wurde, die allein dem Kreml nütze.

Die Frage, wie man das Angebot der Macht zum Dialog nutzt, habe in den Regionen zu einer heißen Debatte geführt, meint Alexander Ausan von der russischen Verbraucherschutzgesellschaft. Nie sei in den vergangenen Jahren so viel über Zivilgesellschaft berichtet worden wie in den letzten Monaten. Der größte Erfolg sei daher nicht das Forum, sondern der Weg dorthin, glaubt Ausan, einer der dezidiertesten Vordenker der Zivilgesellschaft in Russland. Und noch eine erstaunliche Erfahrung, von der viele NGOs berichten: In den Kohorten der Bürokraten hätten sie eine ganze Reihe von Sympathisanten entdeckt.

Pawlowski, dessen Kammerprojekt erst einmal gescheitert ist, will sich nun ebendiesen Staatsbeamten zuwenden und „aus ihnen Bürger machen“. Davon träumte seinerzeit auch Revolutionär Lenin.