Die Familie lieben lernen

Horst Königstein, Fernsehspielredakteur beim NDR, ist Mitautor des Films über die Familie Thomas Manns. Ein Interview

von JAN FEDDERSEN & STEFFEN GRIMBERG

taz: Herr Königstein, warum haben Heinrich Breloer und Sie ein Projekt über die Familie Thomas Manns realisieren wollen?

Weil wir die Familie Mann lieben gelernt haben. Bei mir fing es Ende der Siebzigerjahre an. Damals hatte ich einen Film über die Schilleroper, ein Revuetheater in Hamburg, machen wollen. Und bei meinen Recherchen stieß ich auf eine Schauspielerin, die noch Klaus Mann kennen gelernt hatte. Sie hatte ein Foto, auf dem der älteste – und schwule – Sohn von Thomas Mann mit seinem Freund zu sehen war.

Daraus erwuchs später Ihr Film „Treffpunkt im Unendlichen“ – eine Huldigung an den fiebrigen Zeitgeist der Weimarer Republik, eine Warnung vor dem Nationalsozialismus und eine Liebeserklärung an Klaus Mann.

In gewisser Hinsicht. Klaus Mann hatte mich immer interessiert. Der war für mich dissidenter, wichtiger als Thomas Mann.

Weshalb nicht für Thomas Mann – den deutschen Autor des Großbürgerlichen schlechthin?

Der lag mir nicht so nah. Klaus Mann aber sehr. Ein Mann, der verzweifelt um ein glückliches schwules Leben rang.

Auffällig ist, dass Sie in Ihren Filmen wie „Treffpunkt im Unendlichen“ oder „Nächte mit Joan“ immer die Diva in den Mittelpunkt rücken. Eine Figur, die für ihren unbedingten Willen zur Autonomie mit dem Preis von Einsamkeit bezahlen muss. Plötzlich rückt auch bei Ihnen die Familie in den Vordergrund.

Wobei ich sagen würde, dass ich auch den Film über Joan Crawford am Ende versöhnlich, undivenhaft sozusagen, angelegt habe. Aber das Familienthema war vielleicht immer da, wirkte aber vor allem im Unterbewusstsein. „Treffpunkt im Unendlichen“ hatte ich meinem gerade verstorbenen Vater gewidmet. Und als Heinrich Breloer und ich mit der Geschichte der Familie Mann begannen, starb meine Mutter. Ich würde sagen, dass das Thema Familie mich immer beschäftigt hat – aber jetzt konnte ich wissender damit umgehen. Um zur Diva zurückzukommen: Ich habe sie nicht verraten. Thomas Mann, der in seiner Familie „Der Zauberer“ genannt wurde, war ja auch eine Diva.

Doch Heinrich Breloer und Sie schildern ihn vor allem als Zentrum einer spannungsvollen Familie.

Jede Familie trägt Spannungen in sich. Wir dachten, dass wir einen Film über die Familie Mann nur dann machen können, wenn wir Thomas Mann nicht als Unsympathen schildern. Wir wollten mehrere Blickwinkel bieten können. Und je mehr wir recherchierten, desto stärker kam heraus, dass diese Familie aus allen möglichen Perspektiven heraus erzählt werden kann.

Klaus Mann, das ist offenkundig, scheitert an seinem Vater.

Er hat sich, anders als seine nächste Schwester Erika, ein Leben lang, eigentlich immer, von ihm abgrenzt. Und Monika und Golo wirkten offenbar weniger attraktiv auf den Vater als die anderen Kinder. Golo hat sich ganz geweigert, dem Vater zu genügen. Michael Mann, der jüngste Sohn, der als Herausgeber aus den Tagebüchern erfährt, dass er eigentlich unerwünscht war, hat sich umgebracht. Und Medi, Elisabeth Mann, die jüngste Tochter, die Thomas Mann geliebt hat wie keine andere, sie hat bis jetzt geschwiegen und uns mitgenommen auf ihre Lebensreise. Ein magisches Panorama, zauberisch sozusagen – wie jede Familie.

Woraus speist sich das Interesse von Heinrich Breloer und Ihnen an diesem unendlichen Feld namens Familie? Was ist ihre Magie, ihr Zauber?

Die Magie einer Familie liegt doch in einer überbordenden Nähe ihrer Mitglieder und zugleich in ihrem Zwang, sich unter ihnen zu behaupten. Jeder in einer Familie erzählt seine Geschichte anders – und diese Geschichten werden im Laufe der Jahre stets anders erinnert. Es gibt kein Ende. Für Heinrich Breloer war das immer das Thema – die eigene Familie. Und bei mir manchmal die Sehnsucht nach einer eigenen Familie.

Hätten Sie selbst gern eine Familie gehabt?

Ich habe jetzt eine, finde ich. Mein Freund und dessen Eltern. Ich fühle mich jetzt wieder aufgehoben. Der Tod meiner Mutter war ein ziemlich einschneidendes Erlebnis.

Ist Ihr Blick auf Familie durch die Beschäftigung mit der Mann-Dynastie anders geworden?

Das kann man schlecht sagen. Das ist für mich eher eine Frage des Alterns. Ich bin, glaube ich, duldsamer mit Menschen geworden, nicht mehr so rigoros, nur bei der Arbeit bin ich noch so hart wie eh und je. Aber wer sich auf Familie einlässt, das konnten wir während all der Jahre, als wir uns mit der Familie Mann beschäftigten, lernen, kann nicht unduldsam und rigoros sein.

Familie als ewiger Kompromiss?

Notgedrungen. Man wird es nicht vermeiden können, Familie zu haben. Und deshalb ist der Film auch ein Plädoyer für sie. Man sollte natürlich Voraussetzungen für Wohlfühlen und das Aushalten von Widersprüchen erarbeiten, Familie bedeutet ja überhaupt unendlich viel Arbeit.

Wie viel Arbeit hat die Verfilmung der Geschichte der Mann-Familie gemacht?

Viel, sehr viel. Aber wir hatten ja auch Glück. Es gab zwar nur begrenzt Filmmaterial mit Katia Mann, auch von Erika Mann gibt es nur rare Filmdokumente. Aber unser Glück war, dass wir Medi fanden, die jüngste Tochter. Sie lebt in Kanada und hat ohne Scheu die Geschichte ihrer Familie Mann erzählt. Es war ein großes Glück für uns. Und wunderbar, weil sie keine der Geschichten, die es sonst über ihre Familie gibt, auch nicht die unfreundlichsten, abtut. Sie ist frei und hat frei berichtet.

Warum kann sie das? Warum war sie das einzige unter den Mann-Kindern, das von seinem Vater nicht erdrückt wurde?

Medi ist anders. Sie hat sich nicht die Mühe gemacht – wie Klaus oder Erika –, sich vom Vater abzugrenzen. Abgrenzung bedeutet ja, sich noch stärker mit dem anderen zu verketten. Das hat Medi nicht gemacht. Sie hat sich früh entschieden, ein eigenes Leben zu leben. Und vielleicht hatte sie es auch leichter, weil sie ein Mädchen war.

Und weil Thomas Mann in ihr, der Jüngsten, keine Konkurrenz sah.

Wohl kaum. Sie hat eben auch ihren Preis zahlen müssen: Mädchen können keine erstklassigen Pianistinnen werden, Mädchen sind sowieso nicht so viel wert, hat ihr der Vater gesagt. Das hat sie geschmerzt, sie hat sich aber trotzdem nicht zugleich daran abgestrampelt. Stattdessen, so würde ich es sehen, hat sie den „Zauberer“ zu sich herangewinkt, ganz körperlich.

Thomas Mann war nicht gerade für seine Körperlichkeit bekannt.

Aber was schert das ein Kind? Auf Fotos sieht man ihn, wie er sie, ein pummeliges Baby, auf dem Arm trägt: Das sieht sehr innig aus. Ohne Medi hätten wir das Projekt überhaupt nicht realisieren können. Sie hat uns sagen können, wie es im Haus der Familie Mann in Zürich aussieht, wie es in München war oder im kalifornischen Exil.

Liegt es auch an ihrer Sicht, dass in diesem Film vor allem die weiblichen Mitglieder der Familie so gut wegkommen?

Nein, aber es ist in gewisser Hinsicht ein Frauenfilm. Katia Mann wurde in den Siebzigerjahren noch als Frau an der Seite des Großschriftstellers geschildert – eine, die ihr wahres Leben nicht leben konnte. Aber das stimmt nicht. Ohne sie, das wusste Thomas Mann genau, hätte er nicht das werden können, was er wurde. Sie war seine Managerin und zugleich Intendantin der Familie. Auch Monika, Erika und eben Medi waren und sind starke Personen.

Wie fand Medi Mann den Film?

Oh, das war ein spannender Moment. Wenn sie den Film ablehnt, haben wir bei den Voraufführungen gedacht, würden wir ein Problem bekommen. Aber sie hat nur an zwei Stellen Einspruch erhoben. In der einen Szene, als ihre Familie mit der „Queen Mary“ in die USA reist, sitzt Katia vor dem Spiegel und zieht ihre Augenbrauen nach. Da sagte Medi, ihre Mutter hätte sich niemals die Augenbrauen geschminkt. Und an anderer Stelle meinte sie, Katia hätte auch ihre Tochter Monika nie so abgestraft, wie es gezeigt wurde. Wir haben daraufhin die Szene etwas geändert.

Wie hat sie nach den knapp sechs Stunden des Films reagiert?

Bewegt. Am Anfang, als das Haus in München gezeigt wurde und der Vater sie auf dem Arm trägt, hat sie geweint. Am Schluss war sie glücklich, weil sie Dinge gesehen hat, die sie nicht wusste. Ihren Geschwistern war sie näher gerückt. Einiges hat sie selbst überrascht.

Und Sie?

Gefreut, sehr gefreut. Heinrich Breloers große Kunst besteht ja darin, in Zeitzeugen Erinnerungen zu wecken, von denen sie gar nicht glaubten, dass sie sie haben. Da passieren viele Dinge, die man als Autor nicht planen kann. Wir wissen ja nicht, welche Bilderfluten in den Menschen ausgelöst werden. Aber wir hoffen natürlich immer. Jeder Film ist eine Interpretation. Die von Heinrich Breloer und mir gespielte Variante des Dokudramas ist vielmehr ein Filmessay, manches traumhaft hingesagt. Hier, bei den Manns, ist es das Leben als gelebter Traum: Wir hoffen immer, dass die Menschen diese Träume erkennen.

JAN FEDDERSEN, 44, ist Redakteur im taz.mag, STEFFEN GRIMBERG, 33, taz-Medienredakteur