Bedürfnis und Begehren

In Frankreich waren es vor allem Frauen, die den Sex in den letzten Jahren zum Thema in Kino und Literatur gemacht haben. Aber was kommt nach der Befreiung? Wie verbinden sich Erotik und Alltag? In ihrem Film „Das Geheimnis“ holt Virginie Wagon den sexuellen Diskurs in die Normalität zurück

von BARBARA SCHWEIZERHOF

Die Geschichte ist nicht wirklich neu: Eine Frau, die alles hat – eine glückliche Ehe, ein süßes Kind, Erfolg im Beruf – nimmt sich einen Liebhaber, denn da war doch noch etwas, was ihr fehlte – guter Sex, wie man so sagt. Auf den ersten Blick erzählt Virginie Wagon in „Das Geheimnis“ also nur eine Variante des vertrauten bürgerlichen Sexualromans vom immer währenden Begehren, dem auch in glücksähnlichen Verhältnissen nicht lange Einhalt zu bieten ist. Auf den zweiten Blick jedoch lässt sich in diesem eher unauffälligen Film so etwas wie eine Bestandsaufnahme erkennen: Was wissen wir nach all dem Gerede über Sex eigentlich noch über unsere Bedürfnisse?

Unauffällig ist „Das Geheimnis“ zunächst, weil er weder in seiner Erzählung noch in der Darstellung der Sexszenen an irgendwelche Tabus rührt. Marie entdeckt keine verborgenen Perversionen und neigt auch nicht zu drastischen Lösungen; der gezeigte Sex kommt mit den üblichen Körperarrangements aus: offenherzig, aber mit explizitem Desinteresse an der Erotisierung der Körper vor der Kamera.

Während man in Deutschland das Reden über Körper und Erotik ganz allein den Schmuddelformaten des Fernsehens überlassen hat, haben in Frankreich in den letzten Jahren vor allem Frauen den Sex zum Thema gemacht. Vor dem Hintergrund der Skandalfilme „Romance“ oder „Baise-moi“ und Büchern wie Catherine Millets „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ wirkt „Das Geheimnis“ eher bieder. Wo Catherine Breillat in „Romance“ noch vorführte, wie weit man gehen kann im Zeigen von nackten Körpern und sexuellen Verrichtungen, ohne „pornografisch“ zu werden, verlässt die Autorin Millet in ihrer fast altmodisch kunstvollen Beichte die ausgetretenen Wege des Diskurses, indem sie weder eine bestimmte Praxis als Befreiung anpreist noch eine andere als Unterdrückung brandmarkt, sondern allein beschreibt, worauf es ihr in ihren „Ausschweifungen“ ankam: tabulos zu sein, keine Angst zu haben.

Im Kontext der von diesen Werken verursachten Aufregungen erscheint nun Wagons Film wie der Versuch, aus dem Skandalgewässer herauszukommen und doch der Frage auf die Spur zu bleiben: Was wollen Frauen? Statt die Mittel des Genres neu auszuloten, wie das Breillat und Millet in ihren Bereichen getan haben, nimmt sich Wagon die gängige Filmerzählung und setzt alles daran, sehr genau zu sein. Das macht ihren Film auf den zweiten Blick so ungewöhnlich.

Die Regisseurin stellt uns Marie vor, wie sie den Hauseingang eines Wohnkomplexes betritt, sich orientiert, die richtige Klingel findet. Man sieht ihr die Nervosität an und zugleich die Lust, sie zu überwinden. Schnell versteht man, dass Marie als Vertreterin unterwegs ist und dass ihr diese Arbeit sogar Spaß macht: wie sie Kontakt aufnimmt zu den Menschen, sich in der fremden Wohnung bewegt, ihre Enzyklopädie anpreist – irgendwie muss diese Frau gute Gründe haben, das zu machen, was sie tut. Später, zu Hause, ist der Mann gerade dabei, das Kind zu baden, ist die Idylle der emanzipierten Frau von heute perfekt. Zugleich aber gibt es ein Unbehagen: Jetzt noch das zweite Kind und dieses wohl geordnete, sympathische Leben muss einfach implodieren, weil der Unordnung in ihm zu wenig Platz eingeräumt wird.

Aber zu diesem Zeitpunkt hat Marie den zukünftigen Liebhaber schon getroffen. Bill, ein schwarzer Amerikaner, ist bezeichnenderweise nicht der, für den sie ihn am Anfang hält, einer aus einem anderen Ordnungssystem, der sie durch ungewohnt direkte Blicke irritiert. Aber genau das scheint ihr zu gefallen. Bald geht sie bei ihm vorbei, um in der Küche zu sitzen, Whisky zu trinken, Zigaretten zu rauchen und auf Englisch neue Sätze über sich auszuprobieren. Schließlich zieht sie sich einfach aus.

Obwohl es zwischen den beiden keine Liebes-, sondern „nur“ eine Sexgeschichte wird, entwickelt sie eine mächtige Sogkraft, die Maries normales Leben nicht unberührt lassen kann. Viel mehr erzählt Wagon in ihrem Film eigentlich nicht. Auf geheimnisvolle Weise liegt aber gerade in dieser Beschränkung das Abgründige: Die Befreiung der Sexualität von überkommenen Moralvorstellungen und die Emanzipation der Frauen waren noch gesamtgesellschaftliche Anliegen, bei der Durchsetzung der ganz persönlichen Bedürfnisse jedoch sind sie allein und können sich auf keine vorgegebenen Muster berufen.

Wobei es nicht der Mangel an Glamour oder schönen Körpern ist, der das Ausleben des Begehrens verhindert. Wie gut Alltagshaut und erotisches Verlangen zusammengehen, konnte man bereits in Patrice Chéreaus „Intimacy“ beobachten. Weit weniger ausführlich werden auch in „Das Geheimnis“ die Körper blass und fleckig gezeigt. Die Liebenden in „Intimacy“ holen sich ihre romantische Aufladung jedoch aus einer tiefen existenziellen Verzweiflung; so betont gewöhnlich Chéreau ihre physischen Begegnungen zeigt, so außerhalb ihrer jeweiligen Ordnung sind doch die Empfindungen füreinander.

In Maries selbstbestimmtem Leben dagegen gibt es keine Abgründe, aus denen sich noch große Gefühle schöpfen ließen. Ihre Schwierigkeit besteht nicht darin, sich keinen Sex auf der Küchenspüle vorstellen zu können, sondern darin, dass die Küchenspüle die eigene ist, vor der der Rollenwechsel von domestizierter Hausfrau zum Sexvamp einfach nicht mehr gelingen will.

Wagons Film holt gewissermaßen den sexuellen Diskurs in die Normalität zurück, bettet ihn ein in den Ablauf von Kinderbetreuung, Essen machen und Freunde treffen und legt bloß, was allgemein bekannt ist und doch wenig ausgesprochen wird (vielleicht weil man nicht wirklich weiß, wohin diese Erkenntnis führen soll?): Für sich genommen, im Geheimen oder losgelöst von den sonstigen Lebensumständen ist Sex kein Problem. Schwierig wird es im Kontext des Alltags.

„Das Geheimnis“. Regie: Virginie Wagon. Mit: Anne Coesens, Michel Bompoil u. a. Frankreich 2000, 107 Min.