Modernität unter dem Dach der Kleinfamilie

Deutsche Lernkultur: Warum es bei der aktuellen Bildungsdebatte um weit mehr als nur um eine Frage der richtigen Unterrichtsformen geht

Die Kultur soll es mal wieder richten. Genauer: die Lernkultur. Wenn man sich ansieht, was für schöne Sachen den Schock der Pisa-Studie verarbeiten helfen sollen – praxisnahe Lehrerausbildung, individuelle Förderung der Schüler und, sieh an, sieh an, spannender Unterricht –, kann man nur sagen: Hört sich gut an. Und: Warum wurde das bisher nicht so gemacht? Wer in diesen Tagen etwa Annette Schavan, der Präsidentin der Kultusministerkonferenz, zuhört, kann durchaus den Eindruck bekommen, dass in der Pädagogik etwas in Bewegung geraten ist. Aber auch den, dass das bitter nötig war. Wenn man spannenden Unterricht als Zukunftsrezept verkaufen muss und nicht schlicht als Selbstverständlichkeit voraussetzen kann, dann muss an unseren Schulen wirklich einiges im Argen liegen.

Nun soll man die systemirritierende und befeuernde Kraft niederschmetternder Expertisen keineswegs unterschätzen. Mag gut sein. dass Pisa unserer Lernkultur einen Schub versetzt, und vielleicht sogar einen in die richtige Richtung. Irgendwie will allerdings der Eindruck nicht weichen, dass der Aktionismus in dieser Sache noch eine weitere Funktion hat. Er soll das Problem eingrenzen. Wir haben verstanden. Wir werden das Problem in den Griff kriegen. Es braucht sich dazu nichts als die Schule zu ändern. Das sind die unterschwelligen Botschaften, die die Kultusminister gerade aussenden. Und genau da werden Zweifel erlaubt sein. Immerhin ist unserer Gesellschaft gerade attestiert worden, dass sie ihre Kinder so ausbildet, dass es erstens offenbar auf breiter Front am Verständnis von gelesenen Texten hapert und zweitens eine extreme Kluft zwischen guten und schlechten Schülern entsteht. Leuchtet es in einer solchen Situation wirklich ein, nur mit besserer Pädagogik zu kommen?

Es soll hier gar nicht die Systemfrage gestellt werden. Wer Ganztagsschulen, Kindergartenbetreuung und nicht selektierende Schulformen bäbä findet, mag das weiter tun. Nur eins: Bei Licht betrachtet hinterfragt die Studie doch offensichtlich mehr als nur die Unterrichtsformen. Sie zeigt die Auswirkungen des spezifisch deutschen Konservatismus, der sich gerade in Sachen Kinder und Familie immer wieder Bahn bricht. Die hier einschlägige und konkret Politik generierende Haltung besteht darin, einerseits wirtschaftliche Modernität unbedingt zu wollen, zu bejahen und auch mit viel Geld zu fördern, andererseits aber in sozialen Dingen hübsch alles beim Alten, sprich: unter dem Deckel der Kleinfamilie lassen zu wollen.

Schon im vergangenen Sommer ist diese Haltung unter Druck geraten. Das war, als sich die CSU in Programmdebatten durch die Klagen der Wirtschaftsverbände vor die Entscheidung gestellt sah, entweder den Zuzug ausländischer Facharbeiter nach Deutschland zu unterstützen oder aber den deutschen Frauen verbesserte Möglichkeiten zu geben, erlernte Berufe auch auszuüben. Sie entschied sich für Letzteres und musste in der Konsequenz von der Vorstellung abrücken, dass Kinder gleichsam naturgegeben von ihrer Mutter betreut werden müssen.

Und nun zeigt die Pisa-Studie ganz cool und ohne jede ideologische Aufgeregtheit, dass unser soziales System aus dreigliedriger Halbtagsschule und Kleinfamilienbetreuung nicht effektiv genug funktioniert, um mit den Erfordernissen einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft Schritt zu halten. Es produziert einfach zu wenig gute Schüler. Bald ist Weihnachten. Mit innigen Bildern von glücklichen Kindern im Kreise ihrer Lieben zu Haus im Kopf können unsere Kulturminister ja zu diesem Anlass weiter dem Traum nachhängen, dass den bestehenden Problemen unserer Sozialisationsinstanzen durch besseren Lehrerunterricht allein beizukommen sei. DIRK KNIPPHALS