Mit Gitarre auf der Flucht

Entertainment nach dem Dancehall-Prinzip: Wyclef Jean rockte in Berlin sein Publikum mit Pop-Zitaten und Reggae-Rezitationen bis zur Erschöpfung und ohne Rücksicht auf Coolness-Parameter

Wyclef inszeniert sich als postmoderner Bluesmann und zielt auf das Unbewusste

Wie geil war das denn? Einigermaßen erschüttert stand man nach dem Konzert vor der Berliner Columbiahalle, ließ tuschelnde Mädchen („so ’n Süßer“) und fachsimpelnde Jungs („kannste sag’n, was de willst, Wyclef bringt’s“) an sich vorbeiziehen und sah vor dem inneren Auge schon das Zeitungsfoto von dem Bild, das sich einem gerade eben noch geboten hatte: Die Saalbeleuchtung war schon angeschaltet, weil die Veranstalter nun endlich Schluss machen wollten. Doch Wyclef Jean saß auf dem Rand des Mischpults mitten in der Halle, um noch einmal seinen Hit „911“ zu spielen, während die Sängerin Sarah Connor als seine Duettpartnerin auf der gegenüber liegenden Seite des Saals auf der Absperrung vor der Bühne saß und ihren Part sang, beide umringt vom Publikum wie bei einer Erweckungsmesse.

Man muss sich Wyclef Jean als den einzigen ernsthaften Konkurrenten von Puff Daddy vorstellen. Wie jener ist er Produzent, Rapper, Musiker, Performer, Chartsbeherrscher und Superstar in einer Person. Im Unterschied zu Puff Daddy ist er aber vor allem eins: ein Entertainer vom Schlage eines Robbie Williams. Und es gibt noch einen Unterschied, den Wyclef selbst so zusammenfasste: „If you want jewellery, listen to Puff Daddy. If you want vanity, listen to Jay-Z. If you want reality, listen to Wyclef.“ Und bei allem der Konzertdramaturgie geschuldeten Pathos: Es stimmte.

Das Konzert dauerte drei Stunden: Man bekam also was für sein Geld. Wyclef rockte die Columbiahalle sogar so sehr, dass das Publikum am Ende vor Erschöpfung kaum noch Beifall klatschen konnte. Dafür benutzte er so ziemlich alles, was im musikalischen Unterbewussten des Publikums an latenten oder manifesten Erinnerungsresten herumdümpelt, ohne Rücksicht auf irgendwelche Coolness-Parameter. Spätestens als der den Actionfilmschauspieler Steven Seagall, der gerade in Berlin einen Film dreht, als Gastsänger auf die Bühne holte, um mit ihm zusammen Bob Marleys „Redemption Song“ zu covern, dachte man sich: Boah, echter als die Realität. Und er vergaß auch nicht, immer wieder darauf hinzuweisen, dass da draußen ein Krieg tobt und wem ein mieses Grenzregime die Bewegungsfreiheit einschränkt. Mehr Realität geht nicht.

Aber der Reihe nach. Wenn man sich anschaute, wie Wyclef Jean sich in den vergangenen Jahren inszenierte, so fiel vor allem eins auf: seine Gitarre. Wenn er sich in einem alten Fugees-Videoclip von der haitianischen Polizei in die Wälder jagen ließ, hatte er sie über der Schulter. Wenn er in einem anderen Video durch eine Flughafenabfertigungshalle lief, hatte er sie im Arm. Und auch wenn er Mary J. Blige ein Liebeslied vorsang, spielte er Gitarre. Sehr ungewöhnlich für einen Rapper. Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, Wyclef wolle sich als eine Art postmoderner Wanderprediger inszenieren, als Wiedergänger der alten Bluessänger, die in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in den USA übers Land zogen und ihre Lieder sangen. Gleichzeitig spielte er natürlich auch auf die Gitarre als Instrument der Bürgerrechtsbewegung an, wo sie Symbol für die künstlerische Selbstermächtigung war – dafür, immer und überall selbst spielen zu können.

Erstaunlicherweise spielte die Gitarre bei seinem Konzert aber keine zentrale Rolle. Trotzdem war das Prinzip das Gleiche. Wenn die alten Bluessänger ein riesiges Repertoire an Songs im Kopf hatten, das sie je nach Situation einsetzen oder mit Variationen versehen konnten, so hatte Wyclef neben seiner Gitarre eben noch seine Band, einen DJ und eine illustre Reihe von Gästen. Und genau wie die Bluessänger triggert er zielsicher das Unbewusste seines Publikums an.

So funktionierte die ganze Show eigentlich nach einem Dancehall-Prinzip: Ganz viele Stücke anspielen, drübersingen, und wenn es am besten ist, wieder aufhören und neu anfangen oder etwas anderes machen. Wyclef ließ den Hooligan-HipHop-Klassiker „Jump Around“ auflegen, der in seinen eigenen Hit „Fugee-La“ überging, um auch das wieder abzubrechen und einen Freestyle-Rap anzuschließen, der schließlich in „Johnny B. Goode“ überging. Und wie es nur jemand kann, der sich seiner musikalischen Fähigkeiten vollkommen sicher ist, lud Wyclef permanent Leute aus dem Publikum auf die Bühne, schmiss den geplanten Ablauf um und verließ die Bühne, um quer durch den Saal zu wandern.

Schließlich verfiel er in einer Art Reggae-Rezitativ und erzählte, das Problem in Manhattan sei, dass jeder Zehnte aussehe wie Bin Laden: Auch er selbst werde wegen seines haitianischen Passes immer wieder am Flughafen kontrolliert. Und als er schließlich in der ersten Klasse seines Fliegers gesessen habe, habe er ständig auf die Cockpittür geschaut, weil auch er Angst habe, es könne etwas passieren. Dann wiederholt er die Geschichte so oft wieder von vorne, bis er das Gefühl hat, das Publikum habe nun verstanden, worauf er hinauswill. TOBIAS RAPP