die jazzkolumne
: Leaving the Comfort Zone: Jazz in Zeiten des Krieges

Das Alphabet der Freiheit

Als Herbie Hancock beim Abschlusskonzert seiner Deutschland-Tour in der Alten Oper Frankfurt den 11. September erwähnt, weiß jeder, wovon er spricht. Hancock nennt die Anschläge einen Indikator für das neue Zeitalter. Die Komfort-Zone ist abgeschafft, Unsicherheit mache sich breit, und das betreffe nun längst nicht nur mehr die Kreditkartenzahlung via Internet.

Der Jazz reflektiert, was die Musiker beschäftigt. Dass Hancock sich in der Pose des Messengers gefällt, ist eine Sache. Dass er einen aktuellen Message-Song hat, ist das Bemerkenswerte. In „Wisdom“ geht es um Technologie, Wissen und Weisheit. Der praktizierende Buddhist Hancock fordert mehr Menschlichkeit, mehr Weisheit im Umgang miteinander.

Dass er seinen Text auch in Deutsch rezitiert, ist mehr als nur Show. Hancock, sonst bekannt dafür, zwischen den Titeln schlechte Witze zu erzählen, über die nur er lachen kann, hat diesmal eine verblüffend coole Botschaft. Sein „Future2Future“-Konzert – so auch der Titel seiner jüngsten CD – soll zeigen, wie aufeinander hörende Menschen eine musikalische Zukunftsvision entwerfen. Dabei ist Erfolg nicht garantiert – in erster Linie geht es um Improvisation und Experiment. Das Ausgangsmaterial ist in diesem Fall dreißig Jahre Electric-Hancock und ein paar neue Melodien. Eigentlich nicht groß der Rede wert, alles tausendmal abgefeiert und kritisiert, Fusion-Langeweile und Möchtegern-Pop, wäre da nicht der Funke Hoffnung, dass Jazz doch noch etwas zu sagen hat. Und dass Hancock es tut. Über einem Soundteppich aus dem Apple-Rechner, vom Korg Karma und Effektmaschinen, buchstabiert er dann auf dem großen Steinway-Flügel das musikalische Alphabet der Freiheit. Freier als Free Jazz, dringender als Fusion, verbindlicher als Retro.

Dass Jazzmusiker mit ihren Titeln politische Missstände kommentieren, war Ende der Sechzigerjahre en vogue. Dass ihre Musik den Protest auch ausdrücken und transportieren konnte, blieb die Ausnahme. Dazu gehören der von Malcolm X inspirierte „Change the world Now!“-Chorus eines John Coltrane, Archie Shepp und Charles Mingus. Der Soundtrack zu den Endsechziger Demos und Riots, zu Civil Rights, Vietnam und Nixon kam dann aber nicht von Miles Davis, sondern von James Brown, Jimi Hendrix und Sly Stone.

Mit seinem Freund, dem Saxofonisten Wayne Shorter, unterhielt sich Hancock kürzlich über die seit Jahrzehnten erstarrten Konventionen im Jazz. „Dass der Schlagzeuger von Anfang bis Ende eines Stückes spielt – muss das für alle Zeit so sein? Oder die Struktur, der Ablauf von Thema und Soli, der Umgang mit Tempi – muss das immer alles zum Verwechseln gleich klingen? Dass das Soli auf den Harmonien der Melodie gründen muss – das ist doch eine total alte Denkweise. Wayne und ich sind der Meinung, dass das nicht so sein sollte.“ Auch bei Hancocks „Future2Future“ Konzert waren die Stücke und der Ablauf jeden Abend gleich, die Improvisationen und Experimente machen den Unterschied.

In einem zentralen Titel der CD geht es um Hancocks verstorbenen Freund, den Schlagzeuger Tony Williams aus dem Miles-Davis-Quintett der Sechzigerjahre. Der Text besingt jene Helden, die die Zukunft gestalten, die das Leben der Menschen positiv verändern. Männer wie Miles Davis und Nelson Mandela, aber auch Tony Williams. Ausgerechnet der Williams, der vor dreißig Jahren deutsche Fernsehgeschichte machte, weil er der einzige Musiker war, dessen Auftritt in der Sendung „Beat Club“ wegen „arroganten Verhaltens“ gecancelt wurde. Beim Berliner Eröffnungskonzert seiner Deutschland-Tour war Hancock noch textfest, als er den prophetischen Sohn beschwor. Zwei Wochen später in Frankfurt ging es dann politisch korrekter zu, jetzt war auch von einer möglichen Tochter die Rede. „Musik kann eine heilende Kraft sein. Sie kann den Spirit von Hoffnung und Mut transportieren. Dass man sich nie als Opfer fühlen sollte, sondern als Wegbereiter der Zukunft“, sagt der 61-jährige Pianist kurz vor seinem Frankfurter Konzert.

Hancock vermeidet peinliche Auftritte zum Thema Wynton Marsalis, wie der Pianist Keith Jarrett sie seit Jahren absolviert. Obwohl auch Hancock „die Einseitigkeit der extrem konservativen Perspektive ungemein stört, die von Marsalis propagiert wird. Keine Rede davon, wie sich der Jazz in jüngster Zeit entwickelt. Die Auseinandersetzung mit neuen Musiktechnologien, mit HipHop und Weltmusik, alles das, was den Spirit des Jazz ausmacht und ständig neu belebt, wird ausgeklammert.“ Gerade in diesem Punkt wird Jazz für Hancock zu einer sehr aktuellen und politischen Musik: „Der Jazz geht auf andere Kulturen und Genres zu, öffnet sich und verbindet die verschiedenen Einflüsse zu neuen Sounds.“ Der Saxofonist Wayne Shorter sieht allerdings gerade in Zeiten des Krieges die gesellschaftliche Funktion und mögliche politische Wirkung des Jazz in Frage gestellt. „Allein die Tatsache, dass Menschen eine Nationalhymne singen und danach in den Krieg ziehen, zerstört in meinen Augen jeden Gedanken daran, dass Musik die böse wilde Bestie besiegen könnte. Musik kann Krieg nicht verhindern.“

Vor einem halben Jahr war es noch selbstverständlich, dass in den Donnerstags-Konzerten der Mingus Big Band im New Yorker Time Café auch die aktuellen Missstände des New Yorker Polizei-Regimes thematisiert wurden. Die Mingus-Komposition „Fables of Faubus“, vor vierzig Jahren gegen einen rassistischen Gouverneur getitelt, hatten die Musiker in „Fables of Giuliani“ umbenannt: Die No-Tolerance-Politik des New Yorker Bürgermeisters Giuliani stand auf der „Refuse & Resist“-Liste ganz oben, es heißt, staatlich legitimierte Folterungen und Todesschüsse gehörten mittlerweile zur Tagesordnung in den Suburbs.

Der britische Dramatiker Harold Pinter fragte kürzlich im Berliner Ensemble anlässlich der Verleihung der Hermann-Kesten-Medaille an ihn, warum sich die postulierte Freiheitsliebe des amerikanischen Präsidenten denn nicht auf die zwei Millionen Gefangenen in den US-amerikanischen Gefängnissen erstrecke. Doch nach dem 11. September ist dieses Freund-Feind-Bild irgendwie aus dem Rahmen gerutscht. Der zum Nationalheld aufgestiegene Giuliani scheint das Verlassen der Komfort-Zone ebenso zu reflektieren wie Hancocks „Future2Future“.

CHRISTIAN BROECKING