Blick zurück im Glück

George Salles’ begeisternd erzählter Essay „Der Blick“ liegt mehr als sechzig Jahre nach seinem Erscheinen endlich auf Deutsch vor

Der Blick ist da. Er sieht, unmittelbar, und kann doch nicht erklärt werden, von dem, der sieht. Warum schaut das Auge begierig eine staubgraue Vase mit Verzierungen an, während es den schwelend roten Teppich völlig außer Acht lässt? Und warum wird selbst derjenige, der sein Haus nach den Vorlieben einer quadratischen Moderne eingerichtet hat, vom Überfluss arabischer Ornamente magisch angezogen? Viel ist über diese schwerlich auflösbare Situation, die Vernunft und Neigung nicht zu trennen vermag, in der Philosphie spekuliert worden, obwohl die Fachkräfte für genaue Beschreibungen von Blicken längst in einer anderen Wissenschaft sitzen: in der Kunstgeschichte.

George Salles, der in den Dreißigerjahren als Konservator für asiatische Kunst am Louvre anfing und von 1945 bis 1961 die Musées de France leitete, war schon von Berufs wegen ein solcher Spezialist für Blicke. Täglich mit Fragen nach der Herkunft altertümlicher Exponate oder der Klassifikation von Epochen und Stilen beschäftigt, hat er unentwegt die Geschichte der Menschheit mit ihren kulturellen Erscheinungsformen abgleichen müssen: Hier eine polynesische Götterstatue, dort ein mittelalterlicher Krug aus der Provence.

Doch sein 1939 in Frankreich erschienenes Buch „Le regard“, das nun erstmals auf Deutsch vorliegt, versucht aus Professionalität und fachlicher Kompetenz keine unumstößlichen Urteile zu fällen. Im Gegenteil, Salles’ begeisternd erzählter Essay ist ein Spiel mit den eigenen Erfahrungen, durch die er sich an Übergänge innerhalb der Kulturen herantastet, um aus dem Blick auf Kunst eventuell etwas über die „Geburt eines neuen gesellschaftlichen Typus“ lernen zu können. Manchmal gelingt ihm das, wenn er mit triumphierender Klarheit nachweist, wie das universalistische Weltbild der Renaissance mit unendlich vielen Verzweigungen über Kulturgrenzen hinweg bereits im 12. Jahrhundert vorbereitet wurde.

Manchmal berichtet er auch einfach nur von den Mühen, mit denen Archäologen seiner Zeit etwa im iranischen Shapur die Ursprünge der Menschheit ausgegraben haben. Doch am Ende misst er die harte Arbeit im Feld an den alltäglichen Gegebenheiten des Landes, um mit Erstaunen festzustellen: „Wie sollte man Persien, seine Mythen, seine Kunst, seine Geschichte verstehen, ohne die glitzernden Feste zu kennen, die dort im Lauf eines Tages der Zufall improvisiert?“ Erst aus den rauen Lebensbedingungen in der Gegenwart klirrender Winterkälte und wüstenheißer Sommer lässt sich ermessen, was an historischen Schätzen unter der Erde liegt. Denn die Erkenntnisse der Archäologie ergeben sich für Salles aus allen möglichen Realitäten – als Quersumme der Zeit. Der Forscher aber bahnt sich nicht bloß einen Weg zum Ursprung, er legt mit jeder Schicht auch ein Stück dieses Weges frei.

Dieses Prinzip wirkt auf zeitgenössische Kunst zurück, die selbst wiederum ein Blick auf Geschichte ist. Das Interesse der Kubisten an afrikanischen Skulpturen, die Beschäftigung der Surrealisten mit orientalischen Mythen – alles zeugt für Salles von der vollkommenen Durchdringung in den Vielheiten kultureller Praxis: „Auf ein und demselben Objekt kreuzen sich die Strahlen unzähliger Blicke, naher und ferner, die ihm ihr Leben mitteilen.“ Tatsächlich entspricht das Bild verblüffend genau Walter Benjamins Vorstellung von Aura, die im „Reproduktions“-Aufsatz der geschichtlichen Zeugenschaft der Dinge erst Echtheit verleiht.

So ist es nicht verwunderlich, dass Salles das Museum als pädagogische Anstalt abgelehnt hat – obwohl er Teil des Systems war. Die Unzufriedenheit beruht auf dem durchweg belehrenden Charakter von Ausstellungen, deren erklärende Texte und Kommentare die eigentlichen Kunstwerke überlagern. Museen objektivieren, was Salles in einem, dem „Sammler“ gewidmeten Kapitel gerade an dessen beispielhafter Suche nach Kostbarkeiten schätzt: Es sind die unzähligen kleinen, privaten Obsessionen, die sich im Museum wie Puzzlesteine zu ebenso eigensinnigen wie vielgestaltigen Kulturen zusammenfügen könnten. Stattdessen türmt sich in einer Van-Gogh-Retrospektive von 1937 zwar allerlei biografisches Detailwissen auf, die Person des Künstlers geht im Eifer der Interpretation jedoch völlig verloren. Was Salles sucht, findet er bei sich selbst: den Blick auf die Bilder, in dem immer auch die Zeit auf den Betrachter zurückblickt. Dieser glückliche Moment hält bei der Lektüre Salles’ noch bis heute an. HARALD FRICKE

George Salles: „Der Blick“. Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schäfer. Verlag Vorwerk 8, Berlin 2001, 128 S., 19,43 € (38 DM)