Der Weite die Stirn bieten

Im globalen Jagdrevier des Kapitän Ahab: Herman Melvilles Roman „Moby Dick“, kürzlich in neuer deutscher Übersetzung erschienen, darf als Kommentar zur politischen und historischen Situierung der amerikanischen Gesellschaft gelesen werden

In Amerika sind die Richtungen vertauscht: sein Orient liegt im Westen

von RONALD DÜKER

Ein Abenteuerroman? So eine Bezeichnung wäre selbst abenteuerlich. Allerdings hatte es bereits Herman Melville selbst auf ein solches Missverständnis ankommen lassen. Als er seinem Londoner Verleger Bentley das Buch im Juli 1850, ein Jahr vor seiner Drucklegung, annoncierte, bezeichnete er es als „Abenteuerroman, gegründet auf gewissen wilden Legenden, wie sie bei den Pottwalfängern der Südsee in Umlauf sind, und illustriert von den persönlichen Erfahrungen des Autors“.

Dass der Roman zunächst ein kommerzieller Misserfolg wurde, hatte vermutlich mit einer vom Schriftsteller selbst geweckten und schließlich enttäuschten Leseerwartung zu tun. Das Buch strotzt zwar von Geschichten, für die Melville aus den Erfahrungen seiner Seefahrerkarriere schöpfte, die er im Januar 1841 im Alter von 21 Jahren auf einem Walfänger begonnen hatte. Doch anders als in den autobiografisch inspirierten Romanen „Redburn“ (1849) und „White-Jacket“ (1850), die echte Publikumserfolge waren, werden die Geschichten in „Moby Dick“ verschlungen vom Sog einer dozierenden und oft ziellos ausufernden Erzählung. Was hier am 14. November 1851 bei Harper & Brothers erstmals vollständig im Druck vorlag, nannte sich zwar Roman, ist aber zugleich ein hochkomplexes und abstraktes Programm und ein Kommentar zur politischen und historischen Situierung der amerikanischen Gesellschaft. Angesichts der schönen Neuübersetzung im Hanser Verlag (deutsch von Matthias Jednis, herausgegeben von Daniel Göske, 1.048 Seiten, 34,90 Euro) kann man gerade auf diese Aspekte hinweisen.

Sex kommt in Moby Dick auf eine ganz und gar grundsätzliche Art und Weise nicht vor. Nicht zwischen Männern und Frauen und auch nicht zwischen Männern und Männern. Wenn auch das vierte, „Die Steppdecke“ betitelte Kapitel eine homosexuelle Vermählungsszene zwischen dem Erzähler Ismael und Queequeg, einem aus der Südsee stämmigen Harpunier, zu beinhalten scheint: „Wenn man nun die furchtbare Angst abzieht, dann glichen meine Empfindungen, als ich die Geisterhand in der meinen spürte, in ihrer Befremdlichkeit fast genau denjenigen, die ich hatte, als ich aufwachte und mich von Queequegs heidnischem Arm umschlungen fand. [. . .] Denn ob ich auch versuchte, seinen Arm zu bewegen – seinen Bräutigamsgriff zu lösen – so tief er auch schlief, er umarmte mich doch immer noch fest, als ob nichts als der Tod uns scheiden sollte.“

Die Liaison von Queequeg und Ismael, die später noch durch den Akt der Blutsbrüderschaft besiegelt werden soll, resultiert weniger aus einem libidinösen als einem politischen Begehren. Der edle Wilde, dessen Vater „ein Oberhäuptling, ein König“ war, bricht aus der Erbfolge seines Stammes aus, um stattdessen in ein Verwandtschaftsverhältnis mit einem Neuengländer einzutreten. Zur Besiegelung dieses Paktes und Versiegelung seiner Vergangenheit schenkt er ihm einen einbalsamierten Kopf. Damit finden sich Queequeg und Ismael auf einer Ebene wieder: als Brüder unter dem Dach der nationalen Hybrididentität eines Landes, das die Söhne aller Nationen aufzunehmen bereit ist. Indem Queequeg seinen Stamm verlässt, entscheidet er sich gegen Vater und König zugleich.

Königsmord ist jedoch keine Privatsache (und daher eine Angelegenheit der Psychoanalyse), sondern ein politischer Akt. Der einbalsamierte Kopf vertritt den gemordeten König und markiert zugleich die Zäsur zwischen Alter und Neuer Welt. Auf den Weltmeeren wird eine politisch historische Differenz manifest: „Eines weiß ich allerdings sicher, dass nämlich der Kopf des Königs bei seiner Krönung feierlich eingeölt wird, gerad wie ein Kopf Salat. Kann es jedoch sein, dass sie ihn deshalb salben, weil sein Inneres laufen soll wie ein Uhrwerk – dass sie ihn schmieren, gerad so wie man Maschinen schmiert?“

Zwei sehr verschiedene Maschinen stehen hier zur Debatte: Während amerikanische Schiffe unter der Flagge eines demokratischen Landes segeln und ihre Erträge in Form von Schmier- oder Brennöl im Dienste der flächendeckenden Ökonomie der Nation zum Einsatz kommen, sichern englische Walfänger den reibungslosen Fortgang der höfischen Erbfolge. Zugrunde liegt ein Paradigmenwechsel von einer Gesellschaftsordnung, die sich über eine zeitliche Vertikale – nämlich die Ahnentafel und die statische Repräsentation am Hof – organisiert, zu einer Gesellschaft, die sich entlang einer räumlichen Horizontale bewegt. Dem Bruch mit der alten Ordnung und der Proklamation der Brüderlichkeit in der Unabhängigkeitserklärung folgte eine unausgesetzte Flucht: Der puritanische Exodus setzte sich in der Besiedlung eines unübersehbaren Landes und der ständigen Verschiebung der Frontier fort. Horizontalität bedeutet für die amerikanische Gesellschaft zugleich die proklamierte Gleichheit von Brüdern, also die vermeintlich geschichts- und herkunftslose Organisation auf einer genealogischen Stufe und die Fixierung auf einen per se als unbegrenzt imaginierten Raum.

Königshäupter werden dem amerikanischen Erzähler Ismael unter diesen Voraussetzungen zu Salatköpfen. Dass der zugrunde liegende Paradigmenwechsel auch schmerzhafte Wunden hinterlassen hat, zeigt sich insbesondere an Kapitän Ahab. „Wie uns überliefert ist, wurden zu Zeiten der alten Wikinger die Throne der seeliebenden dänischen Könige aus den Stoßzähnen des Narwals gefertigt. Wie konnte man dann Ahab betrachten, wie er auf diesem beinernen Dreibein hockte, ohne darin ein Sinnbild der Königswürde zu sehen? Denn das war Ahab, ein Khan der Planken und ein König der See und ein großer Gebieter über die Leviathane.“

Der ungeschützte Titel „König der See“ ist zugleich ein Euphemismus für einen grundlegenden Verlust. Denn Königsthrone haben ihren Platz innerhalb gemauerter Umfriedungen am Hofe und nicht auf schwankenden Schiffen. In einem Monolog, der als Karikatur auf Shakespeare’sche Königsdramen verstanden werden kann, macht Ahab seiner Verzweiflung über seine Stellung, die selbst eine karikierte ist, Luft. „Ist also die Krone, die ich trage, mir zu schwer, die Eisenkron der Lombardei? [. . .] Aus Eisen ist’s – das weiß ich – nicht aus Gold. Gesprungen ist es auch – ich spüre das; der schartig scharfe Rand, er martert mich; mein Hirn scheint an das massige Metall zu schlagen; aye, mein Schädel ist aus Stahl, von jener Art, die keinen Helm braucht im hirnspritzenden Kampf.“ Der Kapitän trägt keine sichtbare Krone. Er hat die ehemals manifesten königlichen Insignien internalisiert. In seinem Fall produziert die Flucht, die dem Bruch zwischen Alter und Neuer Welt folgt (die gesprungene Krone) einen Wahnsinn: den Verfolgungswahn, der sich in der obsessiven Jagd auf den weißen Wal niederschlägt.

Denn wahnsinnig ist es schon, das Projekt des Kapitäns. Ein Walfangschiff, das gegen die Konventionen der Zunft verstößt, indem es nicht so viele Tiere wie möglich erlegt, um dann mit einem vollen Tank Walöl wieder in den Heimathafen zurückzukehren, sondern auf der Suche nach einem einzigen ganz bestimmten Tier die Weltmeere befährt, überschreitet die Gesetze von Vernunft und Ökonomie. Moby Dick muss überall vermutet werden: Die Jagd auf den Wal beinhaltet also die imaginäre Besetzung eines jeden Punktes auf allen Weltmeeren, Ahabs Jagdrevier ist im Wortsinne global.

Doch auch sein Wahnsinn ist alles andere als ein Auswuchs individueller Pathologie. Wie auch im Fall von Queequeg und Ismael geht es nicht um Psychologie, sondern um Politik. Ahabs Wahn ist die letzte Konsequenz, die maßlose Übersteigerung jener Flucht, die für Amerika ein kollektives Projekt ist.

Gilles Deleuze und Felix Guattari haben in anderem Zusammenhang von einer „amerikanischen Karte“ gesprochen, auf der sich die Fluchtlinien, die einstmals von Ost nach West, also entlang des Exodus in die Neue Welt und der Durchquerung des amerikanischen Kontinents, verliefen, schließlich in einer richtungslosen Wucherung fortsetzen. Die Übersteigerung der einstmals linearen Bewegung ins Globale löst das Koordinatensystem der Himmelsrichtungen ab. „Aber der Westen ist rhizomatisch, mit seinen Indianern ohne Abstammungslinie, seinem immer fliehenden Horizont, seinen beweglichen und verschiebbaren Grenzen. Im Westen, wo sogar die Bäume Rhizome bilden, gibt es eine typisch amerikanische ‚Karte‘. In Amerika sind die Richtungen vertauscht: sein Orient liegt im Westen, als ob sich die Welt gerade in Amerika gerundet hätte, sein Westen ist der Rand des Ostens.“

Am 14. September 1851, also zwei Monate vor Erscheinen von „Moby Dick“ starb James Fenimore Cooper, der große Erzähler des amerikanischen Siedlungsprojekts. In einem kurz zuvor verfassten Vorwort für eine Neuauflage von „The Prairie“, dem letzten Teil des fünfbändigen „Lederstrumpf“-Zyklus von 1827, stellt er das Buch als eine Art Testament des Wilden Westens hin. In dem Moment, in dem der Bau der transkontinentalen Eisenbahn durch die Weiten der Prärie reale Formen annehme, sei der Wildnis ihr Schrecken genommen. Mit dem Erreichen des Pazifiks sei die Zeit des Siedlers abgelaufen. In diesem Moment geht der Westen sprichwörtlich über Bord.

Auch das 79. Kapitel von „Moby Dick“ ist mit „Die Prärie“ betitelt: Hier liefert Melville eine Übersetzung von Coopers Abgesang auf die verlorene Landschaft. Die Weite des nordamerikanischen Kontinents findet sich in der Physiognomie des Wals wieder. Es ist, „als wären die Augen klare Bergseen“, und in den „Furchen der Stirn“ werden die „Spuren des Gedankenwildes“ lesbar, „das dort zur Tränke kommt, wie Hirschjäger im Hochland die Spuren im Schnee verfolgen“.

Ein ganzer Kontinent, der Begriff von Weite überhaupt, zieht sich auf die Physiognomie der Walstirn zusammen. 1848 war im amerikanischen Senat erstmals ein Gesetz zum Bau einer transkontinentalen Eisenbahn eingebracht worden, die nicht nur den binnenländischen Verkehr beschleunigen, sondern durch die Anbindung an die Seefahrtsrouten letztlich den Asienhandel vorantreiben sollte. Melvilles Roman beinhaltet auch einen Kommentar zu einem Vernetzungsprojekt, das von vornherein in den globalen Raum reichen sollte, und dessen Signatur um 1850 die Eisenbahn war.

So vertreten die Walfänger aus dem neuenglischen Nantucket nur den mobilen und doch sesshaften Stadtbewohner, der die Zukunft Amerikas repräsentieren soll. „Und so wie die moderne Eisenbahn, dieser mächtige eiserne Leviathan, den Menschen so gründlich vertraut ist, dass sie mit Uhren ihre Geschwindigkeit messen, nicht anders als Ärzte den Puls eines Säuglings, und ohne weiteres sagen können, der Zug von oder nach Soundso werde diesen oder jenen Ort zu dieser oder jener Zeit erreichen – fast ebenso berechnen die Nantucketer bei Gelegenheit Ort und Zeit jenes Leviathans der Tiefe.“