Diffuse Angst vor der Moderne

■ Mehr Ruinenromantik als Bestandsaufnahme: Hubertus Siegerts Berlin Babylon

Ein Hinterhof in Berlin-Mitte: Der massige Projektleiter preist mit Berliner Akzent Interessenten ein Baugrundstück an. Auf den Einwand eines Architekten, vor der Bebauung sei es doch sinnvoll zu erfahren, was früher einmal hier gestanden habe, antwortet der Schwergewichtige: „Das kann schon sein ... besorgen Sie mir einfach die Käufer für 20 Apartments und Sie haben den Auftrag.“ In Berlin wird gebaut. Das weiß man nicht erst seit gestern. Für seinen Dokumentarfilm hat sich Hubertus Siegert daher ganz darauf konzentriert, den hektischen Verteilungskampf um die leer stehenden Berliner Flächen einzufangen.

Auf Interviews verzichtet er dabei weitestgehend. Dafür ist die Kamera einfach anwesend, wenn verhandelt, gestritten oder gefachsimpelt wird. Siegert, der auch als Landschaftsplaner arbeitet, hat zwischen 1996 und 1999 anerkannte Größen der Baukunst wie Renzo Piano, Axel Schultes oder Rem Koolhaas vor die Objektive bekommen, die genauso wie die Bauherren trotz medialer Präsenz kaum ein Blatt vor den Mund nehmen. So blafft ein Bauleiter seinen verdutzten Architekten an: „Also, wenn die Fassade so bleibt, dann sieht das aus wie ein Arbeitsamt, aber nicht wie ein Acht-Sterne-Hotel.“

Schon der Titel verrät, dass es in diesem Film um das Phänomen Stadt als Ganzes geht. Der Vergleich zum babylonischen Reich, wie Berlin zerstört und wieder aufgebaut, liegt auf der Hand. Der Mythos soll hier herhalten, um den Berliner Bauboom als vergängliches und letztlich sinnloses Phänomen zu begreifen. Siegert diagnos-tiziert den Verantwortlichen eine Angst vor der Leere. Angetrieben von der Gewissheit, am Aufbau einer neuer Hauptstadt und damit auch einer neuen Republik beteiligt zu sein, löschten sie zudem bauliche Relikte aus, die an inzwischen unliebsam gewordene Epochen erinnern könnten. Eine Siegermentalität also, die eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit verhindern soll.

Um das zu untermauern, kombiniert Siegert in der Mitte des Films ein Zitat aus Walter Benjamins düs-terem Aufsatz „Über den Begriff der Geschichte“ mit einer aufwendigen Tricksequenz, die an die expressionistischen Visionen einer urbanen Apokalypse erinnert. Musikalisch unterstützt wird diese Szene von den Einstürzenden Neubauten, die den Soundtrack zum gesamten Film besorgten und selbst schon fast zu einem Stück Berliner Vergangenheit geworden sind.

Siegerts Zivilisationskritik trifft ins Schwarze, wenn sie die hohle Repräsentationssucht entlarvt, die sich hinter so vielen schmucken Neubauten versteckt. Doch kommt der Film oft nicht darüber hinaus, lediglich ein Unbehagen und eine diffuse Angst vor der Moderne – zu deren Charakteristik ja gerade das sich rasend schnell wandelnde Bild der Stadt gehört – zu vermitteln. So konnte bereits 1929 der Flaneur Franz Hessel Berlin als eine Metropole bezeichnen, „die immerzu unterwegs, immer im Begriff ist, anders zu werden und nie in ihrem Gestern ausruht“. Diese Feststellung verleitete den Schriftsteller zwar zur Melancholie, aber keinesfalls zu einem Abgesang auf die Moderne.

Solche Differenzierung lässt Siegerts Ansatz völlig vermissen. Die ästhetisch reizvollen und auch aussagekräftigen Bilder von Kränen und Baggern schlagen immer wieder in die gleiche Kerbe. Zu keinem Augenblick wird in Betracht gezogen, dass mit einigen der neuen Bauwerke auch auf progressive Art und Weise auf die geänderte Rolle der Stadt Berlin reagiert wurde. Siegert hat stattdessen einer zuweilen recht pathetischen Ruinenromantik den Vorzug gegeben. Eine wirkliche Bestandsaufnahme der aktuellen urbanen Architektur findet nicht statt. Bedeutung kommt Berlin Babylon aber dennoch zu – als bildgewaltiges Dokument, das an den Stil erinnert, in dem Berlin am Ende des Jahrtausends wieder einmal ein neues Gesicht verpasst bekam.

Lasse Ole Hempel

 tägl., 20.30 Uhr, 3001