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: Italienische Lovestorys, Schweizer Katastrophesken

Lawinchen, die das Leben schreibt

Plötzlich ist man ein Lawinenopfer, begraben unter Elektroschrott und toten Technikteilen. Es begann am 21. Dezember, als die Deutsche Telekom ungebeten den Anschluss auf ISDN umschaltete. Seit nunmehr 17 Tagen weigert sie sich, diesen Fehler wieder rückgängig und das Telekommunizieren wieder möglich zu machen. Dann kollabierte kurz vor Silvester der PC. Drei gereizte Pieptöne kündigten an, dass die Festplatte verschollen sei. Und nun streikt noch der zwölf Jahre treue CD-Player, den man bei Kerzenlicht beherzt aufschraubt, um den Laserkopf abzupinseln – bedauerlicherweise ohne Erfolg. Zumal sich unterwegs der portable Discman bei 20 Grad minus verkühlt hat. Inmitten dieser very bad vibes könnte jetzt eine laut- und bilderlose Epoche anbrechen. Schwer und kalt wie ein Knochen liegt selbst das Handy in der Hand – und ist doch sozusagen der Bernhardiner mit dem Schnapsfässchen.

Lawinchen, die das Leben schreibt. Nach der Bergung in die Improvisation konsultiert man Lawinenspezialisten auf literarisch-emotionalem Gebiet. Der Wagenbach Verlag hat den Autoren seines italienischen Schwerpunktprogramms die Charakterstimmen großer deutscher Schauspieler verliehen; also buchstabiert beispielsweise Peter Fitz taktvoll fünf Kapitel aus Goffredo Parises „Alphabet der Gefühle“, und Otto Sander liest weitgehend zeitgenössische „Italienische Liebesgeschichten“, die die Herausgeber als „Variationen zwischen Theorie und Praxis“ beschreiben. Tatsächlich entpuppen sich die meisten Latin Writers als komische Kurzberichterstatter (Andrea Camilleri, Luigi Malerba), ironische Analytiker (Italo Calvino) oder einfach flüssige Erzähler (Antonio Tabucchi) von mehr oder minder überwältigenden Herzensangelegenheiten, die allerdings allesamt einen diskreten Bogen ausgerechnet ums Erotische machen. Oder liegt es an Sanders trauter, trockener Heiserkeit? Selbst Goffredo Parises Groteske „Die Frau im Sattel“, in der eine junge Ehefrau die Hausarbeit boykottiert, sofern sie dabei nicht auf ihrem Gatten reiten kann, funktioniert leider nur so gut, weil sie den Sex abstrahiert.

Vielleicht liegt es an der exakten Materialität der aktuellen Lawine, dass einen Parises „Alphabet der Gefühle“ – elegante Kurzprosa, die im Titel Cuore/Herz, Belleza/Schönheit, Italia/Italien tragen, welche die handelnden Personen durchaus novellistisch überwältigen – eigentümlich kalt lässt. Zu tief sitzt der Hass auf die Telekom, zu schwer wiegt die Kränkung des gehäuften Technostreiks. Letzte Hilfe leistet schließlich der Schriftsteller und Kabarettist Franz Hohler. Der Schweizer hat mit beruhigendem Bass eine Auswahl seiner beunruhigender Satiren für das Hörbuch „Bedingungen der Nahrungsaufnahme“ eingelesen und mit fragenden Cellostrichen voneinander abgesetzt. Was stets als ausgesucht gemächliche, harmlose Anekdote beginnt, steigert sich so allmählich wie unaufhaltsam zur Katastropheske: die Breiverweigerung eines Kleinkindes, der Mückenstich aus dem Asienurlaub, das Betrachten eines Familienfotos. Oder eine simple Postkarte. Auf die wird mongolisches Strafporto erhoben – und der wallisische Postbeamte ruht nicht länger, bis er schließlich nach wochenlangen Recherchen höchstpersönlich und auf eigene Kosten nach Ulan-Bator gereist und den naturgemäß läppischen Betrag beglichen hat.

Voll hinterhältiger Zärtlichkeit führt Hohler den Hörer genüsslich durch die bürokratischen Arabesken seines Beamten, dessen abgründiges Pflichtbewusstsein er anerkennend als die „treibende Kraft der Geschichte“ würdigt. Gerne würde man ja auch die Telekom solcherart rühmen, hätte man in dieser Hinsicht nicht längst jeden Humor eingebüßt. Wahrscheinlich sollte man sich ein Beispiel an Hohlers Helden nehmen, die sich stoisch ins Bizarre fügen. Als wüssten sie, dass sie seine heimliche Ursache sind. EVA BEHRENDT

Franz Hohler: „Bedingungen für die Nahrungsaufnahme“, 69 Min. „Italienische Liebesgeschichten“, gelesen von Otto Sander, 72 Min. Goffredo Parise: „Alphabet der Gefühle“, gelesen von Peter Fitz, 70 Min. Alle Verlag Klaus Wagenbach 2001