Tango Argentino

Eine Frau, zwei Jahre lang gefoltert, entkommt ihren Peinigern. Mit Hilfe eines Mannes, der zur Schändertruppe gehört. Eine Geschichte von Glück und Tod, Freiheit und Schuld – die Geschichte einer Liebe

von HANS RUDOLF SCHÄR (Text)und TXEMA SALVANS (Fotos)

Zehn Männer standen im Raum. Einer öffnete den Koffer und sah die kleinen Schuhe, die sie ihren Kindern gekauft hatte. Zehn Männer. Einer stellte Fragen, wie viele Kinder hast du? Und sie wusste, die Fragen waren nur Schein. Man schloss den Koffer, sie sah die bunten Schuhe nicht mehr, und der Bus fuhr weiter, hinüber in die Sicherheit, Chile, Ausland, ohne Silvia Tolchinsky. Ich möchte vergessen, sagt die Frau, möchte mein Leben keinem erzählen, mein Leben gehört mir. Sie redet langsam, streichelt sich den Hals. Dann war Ruhe. Und sie wusste, diese Schuhe siehst du nie mehr. Es war ein heller Tag. Der 9. September 1980. Am frühen Morgen war sie in Mendoza in den Bus gestiegen, um Argentinien zu verlassen. Wo sie geboren war. Das sie liebte. Ein Land, beherrscht von Generälen, die folterten, mordeten, tausendfach, seit sie sich Jahre zuvor an die Macht putschten, 1976, 24. März. Der Bus hielt in Las Cuevas, dem Grenzort, es war Mittag, ein Mann sagte, mitkommen. Silvia Tolchinsky dachte, so also ist es, wenn sie einen schnappen. Sie ist klein, sie zitterte. Einer schloss den Koffer, und sie sah die Schuhe ihrer Kinder nicht mehr. Zehn Männer. Straßenkleider. Sie nannten sie eine Hure der Subversiven, der Verräter von Vaterland, Familie und Kirche. Man schrie, man schlug, zerrte ihr die Ohrringe aus dem Fleisch, alle Kleider vom Leib, jemand drückte eine Pistole an ihren Kopf. Zehn Männer der Institutos Militares. Ich möchte schweigen und muss reden. Ihre Stimme ist tief und einsam. Silvia Tolchinsky überlegte, wegzulaufen bei nächster Gelegenheit, damit man sie erschieße. Sie dachte an die Giftkapseln, die sie, eine Montonera, Frau im Untergrund, oft mit sich getragen hatte. Zyankali, das sie zweimal schon im Mund hatte, wenn Soldaten, Polizisten, Geheimagenten sich ihr näherten in den Schluchten von Buenos Aires. Wir waren Sozialisten, glaubten an den neuen Menschen, an Gerechtigkeit und Aufbruch, wir suchten den Umsturz, damit Argentinien sich neu ordne. Und wir, die Montoneros, begriffen uns als Vorhut. Als Avantgarde des Besseren. Sie lächelt aus rotem Polster, lächelt und schließt die Augen. Ich studierte Geschichte, weil ich es für meine revolutionäre Pflicht hielt, ich wollte, dass der Holocaust sich nie wiederhole. Zehn Männer und eine Ewigkeit. Man gab ihr die Kleider zurück, verband ihr die Augen, fesselte sie an Händen und Füßen und zwang sie in ein Auto, fuhr los. Dann stieg man aus, führte die Frau irgendwohin, es war kühl, es hallte, sie musste sich bücken, eine Höhle. Frau Tolchinsky, was hat Ihre Kindheit geprägt? Silvia Tolchinsky fährt sich über das schwarze Haar. Wenn abends mein Vater, ein Kettensägenhändler, nach Hause kam, die Zeitungen unter dem Arm, und mit dem Papier dann zu reden begann, die Zeitungen mit Leidenschaft lobte oder tadelte. Sie schweigt. Unvergessen ist mir, wie ich eines Tages auf dem Arm einer Frau, die mir Essen reichte, eine blaue Zahl entdeckte, Auschwitz, ich war dreizehn, ich erschrak sehr, der Holocaust brach in mein Leben, war tatsächlich und hier, und ich, noch Kind, wollte helfen, konnte nicht, kam zu spät. Schritte hallten, Männer schrien, befahlen ihr, sich zu setzen, Silvia Tolchinsky setzte sich, einer sagte, sie habe Glück, ihnen, den Institutos Militares, in die Hände gefallen zu sein und nicht anderen. Einheiten der argentinischen Armee. Die nicht zaudern mit Abfall wie dir. Sie saß in der Höhle, die Augen verbunden, in Ketten gelegt, und dachte an die Worte einer Freundin, Genossin, Montonera, die die Folter überlebt hatte und frei gekommen war. Kollaboration ist keine Garantie, dass du überlebst, gerade die größten Verräter bringen sie um, hatte die Freundin gesagt. Und erzählt, was man mit ihr gemacht hatte, Silvia Tolchinsky ertrug das Grauen nicht, sie bekam Zahnschmerzen, damals, heftig und rasch, musste zum Arzt. Der nicht verstand, was ihr wehtat. Frau Tolchinsky, die Montoneros entführten, mordeten. Haben Sie je getötet? Flugblätter habe ich verteilt, ich brachte Schriften von einem Ort zum andern, arbeitete in der Führung der Organisation mit, ich bin ein ängstlicher Mensch, bei bewaffneten Aktionen war ich nie dabei. Ich habe nicht getötet. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, hätte man mir das Töten befohlen, ich weiß es nicht, no sé. Sie schweigt, krümmt sich über den Tisch in ihrem Haus, führt den Finger über die Maserung des Holzes. Wir waren nicht sehr kritisch, sagt sie. Aber ich war Mitglied. Bin verantwortlich. Man schob sie wieder in ein Auto, brachte Silvia Tolchinsky in die Stadt Mendoza, band sie an ein Bett. Jemand stellte Fragen. Wann bist du geboren? Am 9. März 1948. Wo? In Buenos Aires. Bist du Jüdin? Ja. Wo ist dein Mann? Tot. Wieso? Am 8. Juli 1978 wurde er von Geheimpolizisten entführt und in die Escuela de Mecánica de la Armada gebracht, fünf Tage später lag seine Leiche im Parque Centenario in Buenos Aires. War er Montonero? Ja. Kennst du Marx? Ja. Drei Tage war sie schon in Mendoza, ohne Wasser, ohne Brot, vermummt und gefesselt, in einem Schulhaus gefangen. Und immer war einer neben ihr. Eine Stimme, die fragte, fragte, schrie und ihr zu reden befahl, erzähl uns alles, erzähl uns dein ganzes Leben, und wehe, du vergisst etwas, wir wissen genau, wo deine Kinder sind. Silvia Tolchinsky begann, von ihrer Großmutter zu reden, die aus Odessa floh, 1905, als die Christen sich über die Juden hermachten. Die Jiddisch sprach und ihr, der Enkelin, ein Wort hinterließ, das es im Spanischen nicht gibt, Mensch. Und sie erzählte, dass sie im Norden der Stadt Buenos Aires die Schulen besuchte. Dass sie, beim Putsch gegen Perón, 1955, auf der Plaza de Mayo den Lärm der Bomben hörte. Dass sie in den Schulbüchern die Bilder des Gestürzten und seiner berühmten Evita mit weißem Papier überkleben mussten. Dass dass dass. Die wussten nicht, was sie mich fragen sollten, wussten nicht, was mit mir zu machen. Und ich redete und redete, dachte, so lange du redest, lassen sie dich leben, ich redete um mein Leben, und plötzlich hörte ich meinen Peiniger schnarchen. Ab morgen, sagte schließlich einer, gehört dein schöner Körper dem Bataillon 601. Servicio de Inteligencia del Ejército, SIDE, gefürchteter Folterertrupp des Heeres. Viel Spaß, sagte einer. Die Augen verbunden, zwangen sie Silvia Tolchinsky in ein kleines Flugzeug, die Hände auf dem Rücken, sie hörte die Stimme des Piloten, Landung in Córdoba, dann in Campo de Mayo, einem Armeegelände bei Buenos Aires. Man stieß sie in einen Wagen, drückte sie auf den Boden, sie merkte, dass eine Schranke aufging, sich schloss, der Wagen verließ die Anstalt, rollte endlich über Kies und hielt vor einer Quinta, einem Wochenendhaus, umflossen von Rasen, nicht weit von Campo de Mayo. Dort blieb ich elf Monate. Ich will nicht, dass mein Leben zum Roman wird, und doch rede ich, muss reden und erklären, ich habe keine Wahl, sagt die Frau. Man führte sie in ein Zimmer, fesselte sie auf ein Bett, die Arme hingebreitet, eine Kette zwischen den Füßen, zwei Ketten, unter der Pritsche, zwischen Füßen und Armen, regungslos, blind. Sie hörte Menschen, Nachbarinnen, die Wäsche aufhängten, Nachbarn, die Zucker in Tassen rührten, Kinderlieder. Hörten diese Menschen das Rasseln meiner Ketten nicht? Wollten sie nicht hören? Sie windet sich den seidenen Schal um Arme und Brust. Oft fragte ich mich, warum erkennen meine Folterer in mir keinen Menschen mehr, nur noch Quälbares? Einer lärmte: Ein neues Paket ist hier, lasst es uns öffnen. Der Raum, in dem sie gefesselt lag, schien ihr riesig, er war klein. Jeden Morgen um sieben Uhr trat jemand ins Zimmer, brachte Matetee, und Silvia Tolchinsky durfte sich aufsetzen. Dann führte man sie ins Bad, sie war auch dort nie allein, Toilettengang dreimal täglich, Ausnahmen nicht erlaubt. Dann, vielleicht am vierten Tag im Wochenendhaus, auf ihr Bett gebunden, hörte sie, wie Männer in ihr Zimmer kamen, Eisenstangen schlugen gegeneinander, die Männer fluchten und schimpften, und sie wusste, das ist die Picana, die sie vorbereiten, das Metallbett, auf das sie dich fesseln, um elektrische Stöße durch den Leib zu jagen. Sie schrien, nannten sich el Ratón, die Ratte, oder el Tío, der Onkel, einer hieß el Viejo, der Alte, ein anderer el Gitano, Zigeuner, el Negro, Cacho, Fito, Carlos. Nun bist du an der Reihe. Silvia Tolchinsky dachte an ihre Eltern, die nicht wussten, ob sie noch lebte. Jemand knurrte, Kleines, wir sind Löwen und haben Hunger, du musst uns schon Kuchen schenken, damit wir dich nicht fressen. Dann stellte er eine Frage. Silvia Tolchinsky antwortete nicht. Sie hörte einen lauten tiefen Schrei, roch verbranntes Fleisch, und sie merkte, dass man einen Menschen an ihre Seite gebunden hatte, einen Mann, sie stellten ihr Fragen, folterten den Fremden, Frage Schrei Frage Schrei Frage Schrei, verbranntes Fleisch. Eine Frauenstimme: Hier drin musst du lernen, die nächsten fünf Minuten zu überleben. Jetzt schrie der Mann, den sie quälten, ich bin Padre Jorge Ardur. Silvia Tolchinsky ertrug den Schmerz des andern nicht länger, sagte, ich erzähle euch, was ich weiß, viel ist es nicht, und sie erzählte, dass sie, zusammen mit den drei Kindern, nach dem Tod ihres Mannes nach Kuba zog, Befehl der Organisation, dass sie vor fünf Monaten als Kurierin nach Argentinien zurückkam, dass die Person, die sie treffen sollte, nicht erschien, dass sie die Dokumente deshalb zerstörte, Frage Schrei Frage Schrei. Und die Männer sagten, Mädchen, mach uns nicht zu Narren, was du redest, wissen wir längst. Sie wussten alles, sagt Silvia Tolchinsky. Die Montoneros waren längst aufgerieben, von fünftausend Mitgliedern im Jahr 1976 lebten 1980 noch vierhundert, neun von zehn Gefolterten hielten dem Elend nicht stand, verrieten Namen, Orte, Geheimnisse, wurden dann erschossen, erschlagen, erwürgt, aus Flugzeugen lebend ins Meer geworfen, einige Tausend Menschen. Jeden Morgen um sieben trat eine Stimme an ihr Bett, brachte Matetee, sagte, wir sind Löwen und haben Hunger, gib uns Kuchen, damit wir dich nicht fressen. Elf Monate lang lag sie dort, die Augen verbunden, in Ketten gelegt, sie hörte die Löffel der Nachbarn, die Zucker rührten, Kinderstimmen, elf Monate, si, señor, si, señor. Und plötzlich läutet jemand an der Tür, zwei Männer, höflich fragen sie, wer in diesem netten Haus lebe, Volkszählung, und du weißt nicht, ob du schon verrückt bist, und du weißt nicht, ob du schreien sollst, damit die Volkszähler dich hören, und dann fällt dir ein, dass dein Schreien zwei Schuldlose in Gefahr bringt, man wird sie töten, wenn sie dich hören, man darf dich nicht hören, es gibt dich nicht mehr. Denn der Mensch ist auch, was andere in ihm erkennen, sagt Silvia Tolchinsky, schiebt die schmalen Hände zwischen die Knie, und wenn andere in dir nur noch ein Paket sehen, wirst du zum Paket. Sie wollte nicht sterben. Dachte an ihre Kinder, die sie, bevor sie Kuba verließ, in ein Heim gebracht hatte, dachte an die Worte ihrer Freundin, die die Folter überlebte. Lass deinen Folterer nie merken, wie zerstört du bist. Den Anblick deiner wahren Zerstörung erträgt er nicht. Dann nimmt er dir, um sich zu befreien, dein Leben. Silvia Tolchinsky sang Tangolieder, sie sang sie leise und ständig. Einer, vielleicht el Viejo, vielleicht Fito oder Carlos, ließ sie einen Brief, ohne Datum, an ihre Schwiegermutter schreiben, bitte, nimm meine Kinder zu dir, sie sind in Havanna in einem Heim. Einer gab ihr einmal Fisch zu essen, statt billige Wurst, und eine Stunde später schlich der Folterer an ihre Pritsche, flehte, ihn nicht zu verraten, Fisch statt Wurst sei gegen das Gesetz. Alles machten sie mit mir, sagt Silvia Tolchinsky, alles, einzig auf ihr elektrisches Bett legten sie mich nicht. Mit dir, sagten sie, haben wir Besseres vor. Einer gab ihr, statt fünf, sechs Zigaretten, dann bettelte er, verrate mich nicht. Manchmal brachten sie die Frau in ein anderes Zimmer, setzten sie an einen Tisch, sagten, so, nun wollen wir etwas Gutes essen, und holten einen anderen Gefangenen, setzten ihn neben sie und trugen dann das Mahl auf. Und begannen, als sie nach der Gabel tasteten, zu schreien, ihr Hurenkinder, ihr Subversiven, was fällt euch ein, hier eure faulen Mägen zu füllen, sie schrien und schlugen, fesselten die Frau wieder ans Bett. Manchmal fragten sie, was willst du zum Frühstück? Und dann antwortete sie, Kaffee. Was glaubst du, wo du bist, du weniger als nichts, Kaffee gibt es im Hotel Hilton, nicht bei uns. Silvia Tolchinsky sang Tangolieder, leise, damit ihre Wärter sie nicht hörten. Tu angustia comprendió que era imposible / In deiner Angst begriffst du, es war sinnlos / Luchar contra la gente es infernal / Gegen die Leute zu kämpfen heißt höllische Qualen / Deshalb verließest du mich, ohne etwas zu sagen, meine Liebe. Oft fragten die Männer, wann hast du deine Tage? Sag mir, wann du deine Tage hast, ich bring dir Binden, so viele du willst. Eine Stimme erzählte, drüben in Campo de Mayo habe sich ein Folterer an einer Gefangenen vergessen. Und die Frau habe sich beschwert. Also habe man sie umbringen müssen. Geht doch nicht, dass einer sich an einer Gefangenen vergreift. Si, señor. Frau Tolchinsky, haben Sie verraten? Sie schweigt. Ich glaube nicht, ich hoffe nicht, sagt sie und führt den Finger über die Maserung ihres Tischs. Ich überlebte, indem ich sie im Ungewissen ließ, darüber, ob ich ihnen noch nützen könnte. Ständig tat ich so, versuchte so zu tun, als könnte ich ihnen irgendwann noch nützen. Wie im Fieber suchte ich nach Dingen, die ich ihnen erzählen könnte, Dinge, die ein bisschen wahr, meist aber erfunden waren, Dinge auch, die sie längst kannten, ich hatte keine Zeit, meine Folterer zu hassen, musste nachdenken, wie ich überleben könnte. Will man sterben, ist man verloren. Ich fing an, kubanische Häuser zu beschreiben, Häuser in Havanna, in denen ich gewohnt hatte, die ich kannte, dann schrien sie mich an einen Tisch, schoben mir die Augenbinde hoch, und wochenlang schrieb ich, schrieb auf, wie in Havanna Häuser aussehen, wie viele Fenster, Balkone, Türen, und meinen Bericht übergaben sie dann einem der ihren, Bataillon 601, damit der zeichne, was ich erzählt hatte. Ich hoffe, dass ich niemanden verraten habe, ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist. Sie fesselt sich den hellen Schal um Arme und Brust. Verstehen Sie?, fragt Silvia Tolchinsky, sie lächelt, schwarze Hose, schwarze Bluse. Schweigt. Irgendwo bellt ein Hund. Ich kann nicht ausschließen, sagt sie, dass durch mich jemand leiden musste. Sie fährt sich über das Haar. Möchte nicht, dass mein Leben zum Roman wird. Sie gab den Henkern vor, sie spräche Deutsch und Französisch, und einer, Liebhaber klassischer Musik, brachte ihr die Gebrauchsanweisung seiner neuen teuren Anlage von zu Hause mit, befahl ihr, die Worte ins Spanische zu bringen, die Frau erbat sich ein Wörterbuch, übersetzte während Wochen, el ecualizador, der Entzerrer. Manchmal legten sie ihr Artikel aus dem Wirtschaftsteil einer Zeitung hin, hießen sie, den Text zu erklären, denn ihre Generäle, Agosti, Massera, Videla, Viola, hatten das Land verschuldet, vierzig Milliarden Dollar, zwei Fünftel der Industrie lagen zerstört, glaubst du, fragten die Folterer, Argentinien kommt je wieder hoch? Glaubst du, wir könnten eines Tages entlassen werden? Silvia Tolchinsky überlebte. Die Folterer fragten sie, was soll man mit den Leichen der Gefolterten tun? Irgendwo begraben? Oder den Familien übergeben? Und wenn wir sie den Familien zeigen, kann uns dies später nicht schaden? Welchen Kuchen, Chica, schenkst du uns heute? Sie dachte sich weg. Dachte an Miguel, ihren toten Mann, der so lustig gewesen war und klug, blond und schön, Liebe auf den ersten Blick, damals, 1968, Silvia Tolchinsky war erst zwanzig. Miguel Villarreal aus La Plata, Vater ihrer drei Kinder, 1971, 1974, 1976. Miguel, den alle Chufo nannten. Der alles und nichts ernst nahm. Miguel. Der mit ihr in die Vorstädte zog, Ungebildeten das Lesen und Schreiben lehrte, den Sozialismus predigte. Mit dem sie alles teilte. Zuerst das Glück, dann die Panik. Sie dachte daran, wie sie sich, nach dem Putsch der Generäle, versteckten, von einer Wohnung in die andere flohen, nie zu Hause waren, den Kindern beibrachten, keinem zu sagen, wie sie hießen, andere Namen zu nennen. Der Ältesten schrieben sie auf, wen sie anrufen sollte, wenn ihre Eltern plötzlich verschwänden. Man fühlte sich umstellt, umzingelt, ständig in Gefahr, alles machte Angst, die Militärs waren überall, einmal sogar auf unserem Dach, ohne zu wissen, wer wir waren, sie fingen die Leute, als wären sie Fliegen, von der Straße weg, alles war Angst, wenn man Brot kaufte, in den Bus stieg, jemanden traf, einmal hagelte es auf das Haus, in dem wir lebten, es hagelte stark, und wir glaubten, die Soldaten schössen auf uns, Panik, und die Kinder verstanden nicht. Zyankali in der Tasche, Zyankali im Mund. Wenn ich mir heute etwas nicht verzeihe, dann die Kindheit, die ich meinen Kindern bot, sagt Silvia Tolchinsky sehr leise. Meine Kinder machen mir keine Vorwürfe, sie müssten es eigentlich, es wäre gesund für sie. Sie lag im Wochenendhaus vor den Toren von Campo de Mayo und dachte sich Miguel auf den Rand ihres Foltergestells, Miguel Villarreal, Montonero, Sekretär der südlichen Zone von La Plata, den die Schächer längst eingefangen hatten, Ecke Corrientes/Paraná, Buenos Aires, 8. Juli 1978. Den sie in einen Lieferwagen stießen. Und fünf Tage später tot in den Park Centenario warfen. Dann zu seinen Eltern fuhren und sagten, der Mann habe sich selber getötet, Liebeskummer. Silvia Tolchinsky, blind und gekettet, erzählte ihrem Mann, wie sie den Kindern seinen Tod beibrachte. Wie die Kleine, kaum zweijährig, fragte, ob es die bösen Männer waren, die dich töteten. Und der Knabe wollte wissen, ob du wohl, auch als Leiche, noch Schnauzbart trägst. Nur die Älteste, die dich verehrte, sagte nichts, sie litt sehr, stumm, Chufo. Und dann, als du tot warst und auf deinem Grab ein Kreuz stand, Paz a Chufo, verließen wir Argentinien, es regnete, als man dich in die Erde ließ, dein Vater sagte, Chufo, Chufito, hasta el cielo te llora, selbst der Himmel weint um dich, wir zogen nach Mexiko, dann nach Kuba. Dort waren wir ein ganzes Jahr. Bis mich die Organisation, verzweifelt darüber, dass wir schon fast besiegt waren, nach Argentinien schickte, mit einigen Dokumenten. Unsere Kinder, verzeih, brachte ich in ein Heim. Hier lebten nur Kinder von Montoneros, toten und noch lebenden. Beim Abschied griff die Kleine nach meiner Hand, ich weinte, und sie sprach, Mami, lass uns gehen, als wollte sie sagen, lass uns aufhören mit dieser Farce, Mami, lass uns für immer nach Hause gehen, irgendwohin, und ich antwortete, ich kann nicht, Kleines, ich muss so wichtige Dinge tun. Chufo. Als Silvia Tolchinsky, April 1980, nach Buenos Aires zurückkam, in die Stadt, in der sie geboren war, war wenig wie einst. Viele Genossen, Freunde waren nicht mehr. Verschwunden ohne Nachricht. Gefangen. Vielleicht tot. Ihre Stimme ist tief und müde. Ich möchte vergessen, möchte mein Leben niemandem erklären, und doch muss ich es. Meine Geschichte holt mich ein. Die erste Nacht in der Heimat verbrachte die Frau in einem Hotel. Vorsichtig schaute sie aus dem Fenster, erkannte einen Wagen der Polizei. Silvia Tolchinsky schlich aus dem Zimmer, versteckte sich, bis es Morgen war, neben dem Wassertank des Hotels. Ging sie durch die Straßen, sah sie in alle Schaufenster, suchte im spiegelnden Glas Verfolger. Klopfte sie an eine Tür, fürchtete sie, Soldaten warteten dahinter. Alle hatten Angst, alle machten Angst. Sie war eine Fremde. Zweifelte, ob richtig sei, was sie tat. Konnte nicht anders, als es zu vermuten. Die Revolution. Noch nie so nahe wie jetzt. Nie mehr Holocaust. Nunca más. Ich betrog mich wohl selber, ich ahnte, dass ich längst Sinnlosem aufsaß, Rädchen in einer Maschine war, das sich drehte und nie aufhörte, sich zu drehen. Eine Leerläuferin. Doch machte ich weiter. War es den Toten schuldig. Und ich ahnte, irgendwann erwischen sie dich, irgendwann bist du an der Reihe. Man wartete, harrte aus. Dass man dabei sterben konnte, tröstete einen. Wo alles Angst ist, ist der Tod Zuversicht. Silvia Tolchinsky stellte sich vor Fabriken, verteilte Blätter, die Arbeiter staunten und verstanden nicht, was sie wollte. Fünf Monate blieb sie in Buenos Aires und sehnte sich krank nach ihren Kindern. Am Morgen des 9. September 1980, acht Uhr, bestieg Silvia Tolchinsky in Mendoza einen Bus, der sich nach Chile aufmachte. Ein heller Tag. Las Cuevas. Mitkommen, sagte einer. Zehn Männer standen im Raum. Eines Tages brachte man einen Gefangenen an das Bett, auf das sie gekettet war. Man nahm ihr die Augenbinde ab, sie sah Lorenzo Viñas, Dichter und Genosse. Er lächelte, seine Beine waren voller Blut und Flecken. Er griff in sein Hemd, zeigte der Frau das Foto eines Kindes. Drei Wochen alt sei seine Tochter gewesen, als man ihn entführte, sprach er, und er lächelte und hielt das Bild in zitternden Händen. Sie redeten über Muttermilch und Windeln. Und irgendwann später, ich weiß nicht mehr, wann, führten sie Lorenzo wieder an meine Tür, ich glaube, ich konnte ihn sehen, ich bin mir nicht sicher, und ich wusste, nun wird er verlegt, ein Paket geht ab, ein Mensch wird getötet, und Lorenzo wusste es auch, er schien glücklich zu sein, er tänzelte, ich hörte, dass er tänzelte, er war glücklich und sagte zu seinem Bewacher, pass mir auf die kleine Silvia auf, und sie brachten ihn weg, ich sah ihn nie mehr, niemand sah ihn je wieder, ich wurde ohnmächtig. Achtzehn Gefangene, sieben Frauen und elf Männer, waren in den Zimmern jenes Wochenendhauses am Rand der Stadt Buenos Aires, miteinander, nacheinander, junge Montoneros, nach Argentinien zurückgeschickt, um mit letzter Kraft den Umsturz zu schaffen, die Contraofensiva der Organisation. Von ihnen überlebte nur Silvia Tolchinsky. Im Dezember 1980 warf man die Frau wieder in ein Auto, die Binde verrutschte, sie las ein Straßenschild, Calle Conesa 101, ein Eckhaus, wieder kettete man sie an ein Bett, hörte sie die Nachbarinnen. Ein Wärter legte ihr eines Tages Fotos hin. Deine Kinder, sagte der Mann. Und Silvia Tolchinsky sah drei Kinder, die im Hauseingang ihrer Schwiegermutter standen. Sie schaute sie lange an. Fragte, wer sind diese Kinder? Deine, sagte der Mann. Das sind nicht meine Kinder, sagte sie. Das sind sehr wohl deine Kinder, sagte der Folterer. Das sind nicht meine Kinder, sagte sie. Dies sind deine drei Kinder, ich schwöre es bei meinen. Und Silvia Tolchinsky wusste nicht, ob sie längst verrückt sei. Gab es im Kerker Trost? Sie schließt die Augen, macht sich klein und schweigt. Trost? Die Fantasie, die Gegenwelt, die ich mir schuf, ich dachte mich zu meinem Mann, der tot und irgendwo war, zu meinen Kindern, die nun bei meiner Schwiegermutter lebten, ich überlegte, was ich alles unternehmen würde, wenn ich hier rauskäme, stellte mir vor, ich würde ein Haus kaufen, ein altes schönes Haus, und darin eine Bibliothek einrichten für alle Kinder und alle Nachbarn, ein Haus des Friedens, der Begegnung. Ich dachte ständig an die Zukunft, obwohl ich an eine Zukunft nicht glaubte. Sie schweigt wieder. Mich tröstete auch eine Blume, die ich roch, Jasmin de Cabo, sie stand wohl vor meinem Fenster, ich konnte sie nicht sehen, ich roch sie ständig, sie war meine Vertraute, Jasmin de Cabo. Sie lächelt und wird stumm. Ich rede nicht gern mit Journalisten. Und schließlich zeigte man der Frau Bilder ihrer wirklichen Kinder, auf dem Schulweg, im Hauseingang, im Wohnzimmer der Schwiegermutter, he Chica, uns entgeht nichts, wir wissen alles, welchen Kuchen gibst du uns heute? Ein Bewacher setzte sich an ihr Bett, er war freundlich, fragte, Mädchen, wer hat gesiegt? Silvia Tolchinsky antwortete, Sie, mein Herr. Nein, sprach der Folterer, die Rebellen haben gesiegt, indem sie uns zwangen, Dinge zu tun, die wir nie mehr loswerden. August 1981. Man stieß sie in ein kleines Flugzeug. Drei Männer zur Bewachung. Landung in Paso de los Libres, Grenze zu Brasilien. Man löste ihr die Binde aus dem Gesicht, führte sie in ein Haus an der Calle Brasil, zehn, zwölf Männer standen im Raum, Bataillon 601, ich war verwirrt, kann mich an diesen Tag kaum erinnern. Silvia Tolchinsky trug keine Ketten mehr, die Haut über den Knöcheln vernarbte, sie putzte die Zimmer ihrer Peiniger, kochte, wusch, war Sklavin, lebte mit ihnen. Jemand klopfte an die Tür, mach auf, befahlen die Männer, sie öffnete, sah vor sich ein kleines Mädchen in einem bunten Rock, das Lose verkaufte, das Mädchen lachte, Silvia Tolchinsky erschrak, plötzlich stand das Leben vor mir, das Unbegreifliche, sie fand kein Wort, ließ das Mädchen stehen und rannte ins Haus, in ihr Gefängnis. In Paso de los Libres, ständig umgeben von Soldaten, sehnte ich mich nach den Ketten zurück, diese Ketten waren mir auch Schutz gewesen, verstehen Sie? Kann man das verstehen? Man sperrte sie, direkt an der Stelle, an der die Busse hielten, die nach Brasilien fuhren, von Brasilien kamen, hinter Gitter. Von drei Männern bewacht, saß sie dort, wartete auf den nächsten Bus, wartete, bis ihr jemand eine Liste der Reisenden gab und deren Pässe, bis die Menschen, genau in der Folge der Papiere, die vor ihr gestapelt lagen, aus dem Bus stiegen, und hätte ich nun jemanden erkannt, sollte ich ihn verraten, das war mein Leben damals, fünf Monate lang, zwölf Stunden am Tag, manchmal sechzehn. Ich erkannte keinen. Verriet niemanden. Ende November 1981, Silvia Tolchinsky war seit vierzehn Monaten Gefangene, ohne Nachricht verschwunden, kamen einige Männer des Bataillons 601 aus Buenos Aires angereist, sie trugen Sonnenbrillen und lederne Mappen. Die Frau sah die Männer aus einem Auto steigen, sah, wie sie ins Haus an der Calle Brasil traten. Einer aber, etwas verloren, ging nicht mit den anderen, mir schien, der gehörte nicht dazu. Er war jung und klein, kam zu Silvia Tolchinsky, sie hatte Angst, er stellte sich vor, Gustavo Scagliuzzi. Seltsam, nie stellte einer sich vor, und wenn, dann als die Ratte, der Alte, der Zigeuner, der Türke. Claudio Gustavo Scagliuzzi. Ziviles Mitglied des Bataillons 601. Er sah sie lange an, er schaute sich um, Angst in den Augen, es ist schwierig zu beschreiben, es war etwas Besonderes in seinem Blick, ich nenne es das Andere, ich glaube, in seinen Augen glänzte die gleiche Angst wie in meinen, und ich hatte das Gefühl, er sähe, obwohl er beim Bataillon war, zum ersten Mal eine Gefangene, das Ergebnis seiner Arbeit. Er sprach, er wüsste genau, wer sie sei, er, eigentlich Architekturstudent, habe die kubanischen Häuser zeichnen müssen, die Silvia Tolchinsky vor Monaten beschrieb. Dann wurde er leise. Man sei nach Paso de los Libres gekommen, flüsterte Scagliuzzi, um ihr eine Falle zu stellen. Denn es könne kaum sein, dass sie, Silvia, während Monaten von den Tausenden, die aus den Bussen stiegen, keinen erkenne. Man wird dich prüfen, sagte er. Wie denn? Ich weiß es nicht. Dann schwieg Scagliuzzi und ging zu den anderen. Ich dachte, vielleicht ist gerade dies die Falle, vielleicht ist er meine Falle, in die ich treten soll. Er ist einer von ihnen. Er gehört dazu. Bataillon 601. Ich weiß nicht, was ich dachte. Die Männer fuhren weg, und Silvia Tolchinsky saß wieder hinter Gitter, sah Menschen über die Grenze gehen, zwölf Stunden am Tag, wochenlang. Monate später, die Zimmer ihrer Folterer putzend, entdeckte sie eine Mappe. Papier darin. Sie putzte weiter, kehrte zur Mappe zurück, überlegte, das Papier zu lesen, ich hoffte, ich erführe so die Namen meiner Folterer. Die Männer saßen vor dem Fernseher, einer in der Toilette, Silvia Tolchinsky zog das Papier aus dem Leder, ein Pass, sie öffnete ihn, der Ausweis ihres Cousins, ich erschrak. Dessen Frau, Montonera, war zwei Jahre zuvor in Brasilien entführt worden, März 1980, hatte, als man sie von der Straße wegfing, den Pass ihres Mannes bei sich getragen. Silvia Tolchinsky wusste, dies wird deine Falle. Ich wusste, dass der Cousin, auch er ein Montonero, nie erwischt worden war, ich wusste es nicht, ich hoffte es. Eines Nachts holte man sie aus dem Bett, trieb sie hinter die Gitter am Grenzübergang, Soldaten überall. Ein Bus fuhr vor, hielt aber nicht, wie bis dahin, direkt vor ihrem Versteck, etwas abseits, man brachte ihr die Pässe der Passagiere, nicht aber eine Liste mit deren Namen, es war sehr dunkel, Februar 1982, die Menschen, einer nach dem andern, traten aus dem Bus, und plötzlich habe ich den Pass meines Cousins in der Hand, und obwohl ich wusste, dass mir dies irgendwann geschähe, erschrak ich sehr, ich zitterte, wurde bleich, Panik, ich weiß nicht, ob Sie verstehen? Da habe ich den Pass dieses Verwandten vor mir, von dem ich hoffe, dass er noch lebt, und gleichzeitig weiß ich, dass der Pass längst im Besitz der Soldaten ist, was soll ich tun? Was, wenn der Cousin trotzdem im Bus sitzt? Was, wenn ich ihn verrate? Mir wird schlecht. Silvia Tolchinsky sagte, dies ist der Pass meines Cousins. Ein Geschrei ging los, Soldaten rannten, Gewehre, Lichter, man spielte Verhaftung, umstellte den Bus und alle, die darin gereist waren, das Vaterland in Gefahr, man schloss Silvia Tolchinsky ins Haus an der Calle Brasil, schloss sie in einen Raum, sie zitterte, wusste nicht, wie ihr geschah, ihr war schwindelig, der graue Koffer ging zu, und sie sah die bunten kleinen Schuhe nicht mehr, die sie ihren Kindern gekauft hatte. Die Frau wurde krank, stand während Tagen nicht mehr auf, und einer trat an ihr Bett, flüsterte, sei ruhig, dein Cousin war nicht im Bus, verrate mich nicht. Doch auch dies konnte ich nicht glauben, ich konnte niemandem mehr trauen, hatte diese Fähigkeit nicht mehr, ich war allein, alles, was mich umgab, diente der gleichen Sache, meiner Demütigung, meiner Zerstörung, nur er, dieser Gustavo, der mich gewarnt hatte, schien mir anders. Sie krümmt sich über den Tisch, kratzt sich die schmalen Hände. Ich habe niemanden verraten, und darauf bilde ich mir nichts ein. März 1982. Wieder in Buenos Aires. Man befahl Silvia Tolchinsky in eine Wohnung an der Calle Pueyrredón, vielleicht, sagte man, lassen wir dich bald frei, vielleicht auch nicht. Sie durfte das Haus nicht verlassen, du weißt, dass wir wissen, wo deine Kinder sind. Ich wollte nicht fliehen. Zwei Kerkermeisterinnen lebten mit ihr, ließen sie nicht aus den Augen, Schichtwechsel am Freitag. Die Generäle begannen den Falklandkrieg gegen Großbritannien. Und eines Tages trat Gustavo Scagliuzzi ins Haus an der Calle Pueyrredón. Er war schüchtern und anders, in seinen Augen, noch immer, glimmte Angst. Wie es gehe, fragte er, ob man etwas brauche. Am nächsten Tag brachte er Tassen, Gläser, Besteck, ich verstand nicht, was er suchte, wieso er kam. Er kam immer wieder, ließ ein Buch liegen, kam wieder, um es zu holen. Er ließ seine Jacke zurück, holte sie. Er sprach wenig. Schließlich war er einfach da, sagt sie, es gab keine Gefühle, ich lebte mit meiner Trauer, er mit seiner Freundin, aber er war da, fragte, ob man etwas brauche. Sohn eines Generals, Architekturstudent, ziviler Angestellter des Bataillons 601, INS-8. Manchmal fuhren Soldaten vor, Straßenkleider, dann zogen sie Silvia Tolchinsky aus ihrem Käfig, lass uns ein bisschen spazieren, und sie zwangen sie über die Plätze der Stadt, schritten hinter ihr, warteten, bis jemand sie anspräche, eine Genossin, ein Montonero, um ihn sofort wegzusperren, ich, der Köder. Die Generäle waren müde, Falkland verloren, die Geheimdienste suchten. Und tatsächlich kam einmal eine Bekannte auf mich zu, ich sah sie zu spät, sie redete mich an, ich sprach auf sie ein, als sei ich einst mit ihr zur Schule gegangen, ich redete Unsinn, verzog das Gesicht, bis sie merkte, in welcher Gefahr sie war. Panik. Hat Ihnen Gustavo das Leben gerettet? Zumindest hat er es mir zurückgegeben. Sie zieht die Schublade des Tisches, alles ist langsam an ihr, ihr Reden, ihr Verstummen, sie schiebt ein Bild über das Holz, ein Mann, Claudio Gustavo Scagliuzzi, unsicher lächelnd. Er, sagt sie. Ich rede mit Ihnen, damit ihm geholfen wird. Schweigt. Silvia, sagte Gustavo Scagliuzzi, schreib deiner Familie, dass du noch lebst, die Welt soll erfahren, dass es dich gibt, umso schwerer wird es dem Bataillon fallen, dich noch umzubringen. Eine Falle? Will er, dass ich meinen Eltern schreibe, um mich dann umso sinnloser zu töten? Sie schrieb. Und Gustavo Scagliuzzi, Bataillon 601, steckte den Brief unters Hemd, bat seine Schwester, die nichts ahnte, ihn abzuschicken. Oft kam er in die Wohnung, schob die Kerkermeisterin in einen anderen Raum, flüsterte seiner Gefangenen zu, man wird dich morgen verhören, dies und das wird man dich fragen. Und dann berieten Silvia Tolchinsky und Gustavo Scagliuzzi die Antworten, die sie sagen sollte. Gustavo brachte Zeitungen, brachte die Welt ins Haus an der Calle Pueyrredón. Wenn er nicht bei mir war, hatte ich Angst, ich wurde abhängig von ihm, bis heute bin ich es, wir sind uns abhängig bis heute. Sie legt das Gesicht in ihre schmalen Hände. Im Treppenhaus bellt ein Hund, ein Fahrstuhl summt. Verstehen Sie? Kann man mich verstehen? Gustavo war das Andere für mich, er war mir der mutigste Mensch, der an einem Ort, wo es kein Gewissen gab, seinem Gewissen folgte, er war, indem er mir half, ständig in Gefahr, er schob sich zwischen mich und das Bataillon 601, er war mein Spitzel, mein Beschützer. Du musst dich deiner Familie zeigen, sagte er, dann wird man dich nicht mehr einfach töten können. Die Frau nannte ihm den Namen eines Onkels in Buenos Aires, Scagliuzzi rief den Onkel an, bestellte ihn an einem bestimmten Tag, Juli 1982, in die Calle Tupumán in eine bestimmte Bar, deren Namen ich vergessen habe, sagte ihm, dort werde er seine Nichte Silvia treffen, bewacht von einer Wärterin, eine zufällige Begegnung, verstehen Sie? Und der Onkel kam, weinte fast, und Silvia Tolchinsky, die Kerkermeisterin neben sich, sagte, was sie mit Scagliuzzi besprochen hatte, vor zwei Jahren habe ich mich von den Montoneros getrennt, ich habe seither in Verstecken gelebt, aus Angst vor der Rache der Genossen. Wochen später schlug Scagliuzzi der Frau vor, ihre Kinder zu besuchen. Ich wollte nicht, dass sie mich sähen, bevor ich wirklich frei wäre. Scagliuzzi suchte einen Vorwand, die Gefangene Tolchinsky nach La Plata zu fahren, in die Nähe ihrer Schwiegermutter, wo die Kinder lebten. Calle 62. Silvia Tolchinsky, klein und zitternd, sah von weitem ihre Kinder. Erkannte die Jüngste nicht mehr. Es war furchtbar, sagt sie. Frau Tolchinsky, was macht Sie sicher, dass Gustavo nicht folterte, nicht mordete? Sie nickt, sie schweigt. Es wäre ganz furchtbar für mich, wenn es so wäre. Ich glaube ihm, sagt sie mit brüchiger Stimme. Ich glaube ihm, weil in seinen Augen diese Angst war, die auch in den meinen war. Ich glaube ihm. Schweigt. Und wäre er schuldig, so müsste er büßen. Was bedeuteten Sie ihm? Es war nicht Liebe, sagt Silvia Tolchinsky, die Liebe kam später, ich weiß es nicht, weiß nicht. No sé. No sé. Ich glaube, ich war die erste Gefangene, die er sah. In mir erkannte er, was er tat, wo er war. Ich glaube, er suchte jemanden, der ihm half, der Welt zu entkommen, deren Teil er war, der Folterwelt. Ja. Er suchte nicht mich. Unsere Liebe, später, begann wortlos, sie erwuchs aus Schweigen, aus Blicken, Gesten, Taten, no sé. Sie schweigt. Dies hatte mit dem Tod zu tun, der einem ständig vor Augen stand, ihm und mir. Ja. Sie führt den Finger über das helle Holz. November 1982. Erste Massengräber wurden entdeckt, die argentinischen Gewerkschaften riefen zum Generalstreik. Und irgendwann verstand ich, dass Gustavo genauso gefangen war wie ich. Er war der Sohn eines Generals, war 1975 schon, noch vor dem Putsch der Folterer, zum Bataillon gekommen, weil er so sein Studium weiter betreiben konnte, Gustavo war zu schwach oder zu feige, das Bataillon zu verlassen, als er merkte, wozu es gut war. Gustavo wusste, was geschah, er wollte es nicht wissen, er dachte, er bliebe, wenn er nichts wüsste, frei von Schuld. Ein Schreibtischtäter. Ich kann nichts entschuldigen. Er streifte den Tod von mir. Sie schiebt die Hände zwischen die Knie, macht sich klein. Gustavo Scagliuzzi fuhr Silvia Tolchinsky vor die Wohnung des Onkels, es war Freitag, eine Wärterin brachte sie ins Haus, 5. November 1982. Ihre Eltern. Die Mutter holte ein Heft aus der Tasche, Gedichte der ältesten Tochter, elfjährig. Eines hieß, Mami, ich verstehe das Leben nicht, zünde mir die Lichter meines Weges an. Silvia Tolchinsky schlug die Seite um, las den Titel eines Gedichts, das nie geschrieben wurde, La vida, das Leben. Sie schweigt. Argentinien schuldete dem Ausland fünfzig Millionen Dollar, hundertausend Menschen zogen durch die Straßen, schrien gegen die Regierung, die Generäle bereiteten den Abgang vor. Das Bataillon 601 beschloss, seine Gefangene Tolchinsky während der Nacht in der Wohnung des Onkels zu belassen, tagsüber aber ins Haus an der Calle Pueyrredón zu schließen, wir lassen mit uns nicht spaßen, Chica, denk an deine Kinder. Sie wussten nicht mehr, wieso sie mich gefangen hielten, wussten nicht, wie sie mich loswerden könnten. So saß die Frau, 34 Jahre alt, auf dem Sofa ihres Käfigs, tat nichts, wartete, bis es Abend wurde, tat nichts, wartete, schlief bei ihrem Onkel. Am 7. November 1982, kurz vor 15 Uhr, ging die Tür auf. Ihre Kinder. Hielten sich an den Händen. Kamen nicht näher. Kamen nicht näher. Ich. Ich glaube, ich möchte das Gespräch für heute beenden. Ende Dezember 1982 kam ein Offizier des Bataillons 601 in die Wohnung an der Calle Pueyrredón, in der Silvia Tolchinsky ihre Tage verbrachte, und bedeutete, man könnte ihre Gefangenschaft versüßen, falls, erstens, ihr Vater eine Wohnung kaufe, in der man sie ab und zu besuche. Falls sie, zweitens, verspreche, nicht zu fliehen und niemandem zu erzählen, was ihr im Lauf der vergangenen zwei Jahre widerfahren sei. Falls sie Abstand halte von alten Genossen, Montoneros, Hurensöhnen. Silvia Tolchinsky versprach. Ihr Vater kaufte eine Wohnung, ein letztes Gefängnis für seine Tochter, Calle Scalabrini Ortiz, Soldaten lungerten vor dem Haus, eine Kerkermeisterin, manchmal klopften sie an die Tür, verlangten Kaffee, Siliva Tolchinsky bediente, leistete dem Sohn der Wärterin Nachhilfe in Geschichte, sie schüttelt den Kopf, das schwarze Haar, sie lächelt, ich war nicht frei, ich wollte, dass dies alles endlich ein Ende nähme, so oder so. Im Januar 1983 ließ man mich mit den Kindern in die Ferien fahren, ohne Bewachung, meine Kerkermeisterin fragte, ob sie uns begleiten dürfe, sie fühle sich allein ohne mich, ich weiß nicht mehr, mit welchen Worten ich sie abhielt, mitzukommen. Silvia Tolchinsky reiste an den Atlantik, Villa Gesell, sie spielte mit den Kindern, dachte an Miguel, den blonden schönen Mann, der tot und irgendwo war, dachte an Gustavo Scagliuzzi, Bataillon 601, warum nur trat er damals dieser Truppe bei, warum nur? Aber wäre er ihr nicht beigetreten, wäre ich nicht mehr am Leben. Wann merkten Sie, dass Sie Gustavo liebten? No sé, ich weiß es nicht, es gab, es gibt etwas Wahres, sehr Tiefes zwischen uns, das man nicht bereden kann, unsere Liebe gedieh aus dem Tod, no sé. Ein Offizier befahl Gustavo Scagliuzzi in sein Büro, hieß ihn, Platz zu nehmen, lächelte zuerst, wurde ernst, ein Affärchen in Ehren, mein Lieber, nur, irgendwann sollte dies erledigt sein, deine schöne Frau Tolchinsky ist eine Gefahr für Argentinien, und es gibt Kreise in diesem Land, die könnten plötzlich nicht mehr zulassen wollen, was du tust, verstehst du? Und wer weiß, ob dein Liebchen und seine Genossen nicht längst deine Entführung planen? Sie löst den Schal um ihre Brust, sie heisert, es war kein Leben mehr. Gustavo sagte, ich solle das Land verlassen, später werde er mir folgen, doch zuerst müsse er dieses Bataillon hinter sich bringen, sein Leben säubern. Sohn eines Generals. Im Juni 1983 trat Silvia Tolchinsky in das Haus von Marshall Meier, Rabbi zu Buenos Aires. Der Rabbi hatte Besuch, er bat die Gäste, mitzuhören, und die Frau erzählte zum ersten Mal, was ihr geschehen war, und während ich rede, merke ich, dass ich mich zu schämen beginne, dass ich mich schuldig fühle, weil alle tot sind, weil ich überlebt habe, ich dachte an die Mutter meiner kleinen Freundin, die auf ihrem Arm eine blaue Zahl trug und nie darüber sprechen wollte, ich dachte, nun werden sie dich fragen, warum hast du überlebt, wo so viele doch tot sind? Ich dachte, man glaubt dir nicht, weil du nicht tot bist, man hält dich für eine Lügnerin, wer überlebt, ist verdächtig, zum ersten Mal merkte ich, wer überlebt, muss sein Überleben rechtfertigen. Welchen Kuchen, Kleine, schenkst du uns heute? Der Rabbi rief die israelische Botschaft an. Vier Tage später, am 27. Juni 1983, brachte Gustavo Scagliuzzi, Bataillon 601, Silvia Tolchinsky, Montonera, und ihre drei Kinder auf den Flughafen von Buenos Aires. Scagliuzzi trug die einzige Tasche, stand neben ihr, als sie durch den Zoll schritt, sie zitterte. Die Frau und der Mann küssten sich schüchtern und schnell, sie wussten nicht, ob sie sich je wieder sähen. Man flog nach Montevideo, Uruguay, dann nach Zürich, Schweiz, war dort drei Nächte lang festgehalten, dann nach Tel Aviv, Israel. Wochen später verließ Gustavo Scagliuzzi das berühmte Bataillon 601. Verrat. Man nahm ihm den Pass ab. Scagliuzzis Vater, General, wehrte sich für den Sohn. Ausreise nach Spanien, August 1983. Nach Israel im September. Ich glaube, erst dort begriffen wir uns als Paar, sehr langsam, sehr zart. Wussten Ihre Kinder, wer er war? Nein, sagt die Frau, streichelt sich den Hals. Sie wissen es erst seit fünf Jahren, wir erzählten es ihnen, als der Putsch der Generäle sich zum zwanzigsten Mal jährte, 1996, der Sohn sagte, Gustavo ist der Mensch, der mich mein Leben lang zur Schule brachte, der arbeitete, damit ich an die Universität gehen konnte, die Jüngste fragte, bist du aus Liebe bei uns? Oder aus Schuldgefühlen? Und Gustavo antwortete, wahrscheinlich aus beidem, aber ihr seid die Wahl meines Lebens. Die Frau flüstert, wir sind uns abhängig. Dann, Juli 1986, zogen Silvia Tolchinsky, ihre Kinder und Gustavo Scagliuzzi nach Spanien, Menorca, Barcelona, Heirat am 24. April 1987, spanische Staatsbürgerschaft, Gustavo Scagliuzzi richtete Wohnungen ein, baute Möbel, handelte mit Türen und Holz, verdiente Geld, kochte, die Kinder gingen zur Schule, heiliger Alltag, gingen an Universitäten, Silvia Tolchinsky studierte, um ihr Leben vielleicht zu verstehen, Psychologie, schloss 1994 ab, es ging uns gut, wir waren, glaube ich, sehr glücklich, ich verfluche den Tag, als mein Mann sich dem Bataillon anschloss, und ich lobe den Tag, als ich seine Augen sah, darin die Angst, die auch in meinen war. Mein ewiges Zerwürfnis mit mir selbst. Die Älteste heiratete, man feierte ein Fest, und alle dachten an Miguel Villarreal, Chufo, den Brautvater, der tot war, keiner sprach seinen Namen, bis Gustavo Scagliuzzi einen Zettel aus der Jacke zog und las, heute ist ein großer Tag, doch das Leben macht viele Kurven, einige davon sind schön und angenehm, andere nicht, und wieder andere enden im Nichts, diese Wendung erfuhr Chufo, der jetzt unter uns ist, Chufo, Chufito, hasta el cielo te llora. Ich möchte vergessen, sagt die Frau, muss erklären, um Gustavo zu retten. Gustavo retten. Am 27. August 2001, es war Nachmittag, Silvia Tolchinsky saß in ihrer Wohnung im Westen von Barcelona, läutete jemand an der Tür. Ein Mann fragte, ist Claudio da? Die Frau wunderte sich. Niemand rief ihren Mann bei seinem ersten Namen, alle nannten ihn Gustavo. Mit wem rede ich?, fragte Silvia Tolchinsky. Ein Freund von der Stadtverwaltung, sagte der Mann. Dann öffnete sie die Tür, zwei Polizisten standen vor ihr, Straßenkleider, sie sprachen, einer von Claudios Kunden sei unzufrieden, habe ihren Mann angezeigt. Sie antwortete, mein Mann ist nicht hier. Sie gingen wieder, Silvia Tolchinsky wartete, Gustavo Scagliuzzi kam nicht wieder, Angst, dann Panik, der Koffer geht zu, sie sieht die bunten Schuhe nicht mehr. Am Abend ein Anruf. Carlos hier, ich verbinde. Dann Gustavos Stimme, ich bins. Wo bist du? Im Polizeigefängnis. Wieso? Ein Richter in Buenos Aires vermutet, ich hätte einst dich entführt, und siebzehn andere, ich sei beteiligt gewesen an deren Folterung, Ermordung. Er war das Andere für mich, war er bei mir, war der Tod ferner. Argentinien stellte ein Gesuch um Auslieferung des Claudio Gustavo Scagliuzzi, ziviles Mitglied des Bataillons 601 zwischen 1975 und 1983, Causa nro. 6859/98. Einst dachte ich, es gäbe keine Geschichte ohne mich, und nun bin ich ihre hilflose Geisel. Klein und müde, krümmt sich Silvia Tolchinsky über den hellen Tisch, den ihr zweiter Mann vor Jahren schuf, führt den Finger über die Maserung, singt leise, fue estúpido aullar la promesa de tu redención / la gente es brutal y odia siempre al que sueña / sinnlos war es, herauszuheulen, du seist erlöst / die Leute sind brutal und hassen den, der träumt / deine Geschichte und meine Ehre, entblößt auf dem Markt.

Ein Tango, sagt sie.

HANS RUDOLF SCHÄR ist freischaffender Publizist. Auf Silvia Tolchinskys Schicksal wurde er durch einen Artikel in einer argentinischen Zeitung aufmerksam TXEMA SALVANS lebt als Fotograf in Barcelona