Stille Tage im Wienerwald

Protest gegen den Rechtspopulismus von Jörg Haider? Drei junge Autoren aus Wien beschreiben in ihren aktuellen Romanen die Flucht aus einer Welt, in der „fleißige Leistungsträger“ gefragt sind. Damit kommen sie Österreichs Gegenwart sehr nahe

Wichtig ist, dass der Held geflüchtet ist; dass es zu spät war, spielt keine Rolle

von SUSANNE MESSMER

Die Kälte schneidet ins Gesicht, man hält es nicht lang aus auf den Straßen. Ein Wetter, das gut passt zu diesem Wien. Alle hundert Meter steht Aufwärmen auf dem Programm, man muss einkehren in eines der vielen Kaffeehäuser, eine Melange trinken, noch eine Sacherbombe entschärfen, mittags einen Tafelspitz, dazu ein paar Krugerl, dann wieder Topfentorte und heiße Schokolade. Diese Stadt ist ein flauschiges Nest.

Wien, nur Wien, ich kenn dich up, kenn dich down: Man würde ihr so gern auf den Leim gehen, dieser Stadt. Wo sie doch ihre kleinen Schmuddelecken so elegant unter den Teppich kehrt – auch, wenn da immer größere Haufen draus werden. Auf Wiens Straßen jedenfalls sieht man sie nicht mehr, auch nicht an der Universität oder im Nachtleben. Allenfalls ist noch auf politischen Veranstaltungen und den Donnerstagsdemos etwas zu spüren vom Protest gegen den Rechtspopulismus in Österreich, die kernigen Sprüchen Jörg Haiders von „Asylgaunern“ und „Sozialschmarotzern“, von der „Großfinanz aus Brüssel“ und der „staatsfeindlichen Kunst“. Es scheint, als seien der Öffentlichkeit die Argumente ausgegangen gegen die wirkungsvolle Verbindung von technischer Beschleunigung und kultureller Regression. Als gäbe es nichts mehr zu sagen gegen Haiders Bündnis mit den Modernisierungsgewinnern, den „fleißigen und anständigen Leistungsträgern“, wie er sie nennt, dieser faulen Kompensation der Ängste, die Worte wie Datenhighway und Weltmarkt auslösen können, dieser Flucht in alte Werte wie Familie, Natur und Volksgemeinschaft.

Wenn es auch nur Zufall sein sollte, so gibt es doch genug Gründe, dass kürzlich drei Bücher von drei jungen Autoren aus Wien erschienen sind, die nichts anderes sind als ganz unterschiedliche, aber auch vergleichbare Geschichten von der verständlichen Flucht aus der österreichischen Gegenwart. Doch es sind Bücher über eine Flucht ohne Ziel, über die reine Fluchtbewegung, die ins Leere geht, weil sie sich von nichts und niemandem kaufen lassen will.

Daniel Kehlmanns Novelle „Der fernste Ort“ (Suhrkamp Verlag, 148 Seiten, 17,80 Euro) ist ein Entwicklungsroman, der keiner ist, weil sich sein Held in die falsche Richtung entwickelt und sich erst im Moment, in dem er stirbt, von seinem tristen Alltag losreißen kann. Er erzählt die Geschichte des Versicherungsangestellten Julian, der, als er in einem See weit nach draußen schwimmt, beschließt, den eigenen Tod zu fingieren. Während er noch einmal nach Hause fährt, um ein paar letzte Dinge zu erledigen, wird nicht nur die Wirklichkeit um ihn her immer unwahrscheinlicher, der Abbau der Logik von Raum und Zeit ist so fließend erzählt, dass man es erst kaum merkt und einem dann fast unwohl wird. Auch Julians armseliges Leben gleitet noch ein letztes Mal an ihm vorbei: der klägliche Fluchtversuch als Kind, eine halbherzige Liebe, eine akademische Laufbahn, die er gewählt hat, weil ihm nichts Besseres einfiel, und die er schließlich an den Baum fährt, weil er genau weiß, wie unendlich langweilig er ist. Julians früherer Forschungsgegenstand, ein fiktiver Denker der Frühen Neuzeit namens Vetering: ein furchtbar langweiliger Mathematiker und Wirtschaftstheoretiker, mit dem man sich wirklich nicht beschäftigen möchte. Doch am Ende seines Lebens entwickelt Vetering die surreale Theorie, dass das menschliche Bewusstsein seinen eigenen Tod noch eine Weile überdauert.

Kehlmanns Buch handelt vom ärmlichen Alltag, aber auch von der jämmerlichen Rationalität der Wissenschaften. Es ist romantisch, weil es die Hoffnung auf Wiederverzauberung dieser Welt nicht aufgibt, sei sie auch noch so sinnlos. Wichtig ist, dass der Held geflüchtet ist; dass es zu spät war, spielt keine Rolle. Obwohl „Der fernste Ort“ nicht lokalisiert ist und Österreich nicht vorkommt: Wie der Autor in dem von ihm gewählten Café sitzt, dem dunkel vertäfelten Café Landtmann, wie er erzählt, dass es hier die besten Mehlspeisen gebe, dass sich aber im Nebenraum ein Stammtisch der FPÖ befinde, da meint man zu wissen, dass sein Buch trotzdem nirgends anders hätte entstehen können als in Wien. Auf einem Spaziergang zur Uni berichtet Kehlmann, der älter wirken will, als er ist, dass er gerade zum Begriff des Erhabenen bei Immanuel Kant promoviert. Dabei ist „Der fernste Ort“ bereits das vierte Buch des 26-Jährigen. Im repräsentativen Foyer der Universität liegt eine Büste Friedrich Schillers aus den Dreißigerjahren, um deren Errichtung ein Streit entbrannt ist. Dass sie Schiller darstellt wie einen Herrenmenschen, veranlasst Kehlmann nur zu einem heiteren, aber müden Schulterzucken.

Der Weg zum nächsten Termin führt über den Heldenplatz durch die Altstadt, vorbei an auffällig vielen Schaufenstern mit ausschweifenden Miederwaren, vorbei an einem Teppichgeschäft, das handgeknüpfte Fußmatten mit Logos von Mercedes, Audi und Citroen ausstellt, vorbei auch am Griensteidl, dem legendären Treffpunkt der Wiener Moderne. Es ist wie ein Ausblick auf das nächste Treffen mit Xaver Bayer: Hier steht es also, das Griensteidl, wichtigstes literarisches Kommunikationszentrum um die vorige Jahrhundertwende, ein Ort, an dem sich Privates und Öffentliches trafen. Hier kamen Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler zusammen, kultivierten ihren Ästhetizismus, ihre Strategie der Abwehr von Moderne, von Fortschritt und Materialismus, und schufen sich eine Ersatzfamilie, eine Ersatzreligion, ein Ersatzdasein.

Bayers Debüt „Heute könnte ein glücklicher Tag sein“ (Verlag Jung und Jung, 187 Seiten, 19,90 Euro) beschreibt eine Flucht aus der Zeit in eine Verweigerung, die nirgends hinführt. Auch Bayers tragischer Held verbringt seine Tage im Kaffeehaus. Hier schlittert er, ohne jemals jemandem zu begegnen, vom Winterschlaf in die Frühjahrsmüdigkeit ins Sommerloch, es ist egal, ob er gerade studiert oder nicht, mal heißt die aktuelle Liebste Nina, mal heißt sie Anna, und das spielt ebenso wenig eine Rolle wie die Art der Droge, die gerade im Spiel ist, denn so oder so erreicht sie nie das gewünschte Ziel – das Vergessen. Die eintönigen Spiralen, in denen der Roman erzählt ist, ziehen den Leser in einen Strom aus Faszination und Langeweile zugleich. Ein Ersatzdasein tut sich ihm nicht auf, dem Helden, nichts will er halten, grenzenloser Überdruss macht sich breit.

Im ersten Moment könnte man meinen, man habe es bei Xaver Bayer mit einem Dandy aus einer anderen Zeit zu tun. Sein trauriger Blick spricht vom schlechten Nervenkostüm eines Décadent der Jahrhundertwende. Für sein Alter, er ist gerade mal vierundzwanzig Jahre alt, hat er beeindruckende Augenringe. Doch diesen Eindruck revidiert er gleich: Während die Kaffeehauskultur vor hundert Jahren durch die Heimatlosigkeit der Zuwanderer im Vielvölkerstaat Österreich begründet war, sagt er, könne man das von seinem Helden kaum behaupten. Dazu kommt, dass ihn die Fluchtversuche, die er begeht, schnell ekeln. „Das einzige Privileg, das er hat“, sagt Bayer, „ist eine Sorgfalt des Leidens und eine Sorgfalt des Scheiterns, die sich nicht jeder leisten kann.“ Bayer, dessen Debüt man als eine Art melancholisches Pendant zum bundesdeutschen Roman „Faserland“ von Christian Kracht lesen kann, promoviert ebenso im Fach Philosophie wie Kehlmann. Auf diese Art, hofft er, wird wohl weder aus ihm noch aus einer seiner Figuren jemals einer der „fleißigen Leistungsträger“, die zurzeit so gefragt sind in seinem Land.

Dreht sich bei Xaver Bayer wie bei Daniel Kehlmann alles um die Unmöglichkeit eines Fluchtziels, so sind Fluchtziele bei Ernst Molden mehr als präsent. „Doktor Paranoiski“ (Deuticke Verlag, 223 Seiten, 18,02 Euro), der vierte Roman Moldens, ist eine burleske Parabel, eine verfremdete archaische Heldensage, die Fluchtziele im Allgemeinen lächerlich macht und darum nicht nur am direktesten Stellung bezieht zur österreichischen Gegenwart, sondern auch der unterhaltsamste der drei Romane ist.

Leider wird es zum Zeitpunkt der Verabredung mit Ernst Molden an einer öden Bushaltestelle schon früher als erwartet dunkel, und so versinkt der ursprüngliche Plan in der Dunkelheit des Winters, das Gespräch während einer Autofahrt durch den Wienerwald zu führen. Nicht in den Tod, nicht ins Kaffeehaus, sondern in den Wienerwald flüchtet nämlich der Held von „Doktor Paranoiski“. Eines Tages entfällt dem Botaniker und Wissenschaftspublizisten Christoph Salzer plötzlich der Sinn all dessen, was er tut. Wie der Held Daniel Kehlmanns fingiert er seinen Tod und will zurück zur Natur, aber das funktioniert eben nicht im Wienerwald, in den er geht, denn hier hat die Zivilisation längst zugeschlagen. Und so werden in diesem Buch nicht nur die propagierte Naturverbundenheit in Haiders neuem, alten Österreich, sondern auch Fluchtziele wie Antiurbanismus und Volksgemeinschaft ad absurdum geführt, die sich auch auf der anderen Seite des Rechtspopulismus finden: Der Wald ist durchforstet, und als Salzer kurz davor ist aufzugeben, wird er von einer abstrusen Waldguerilla gerettet. „Die Unsterblichen“ befinden sich im bewaffneten Kampf für die Bewaldung der Städte und die Zerstörung der Staaten. Schon weil es im Wienerwald nicht genug Platz gibt, sind sie, wie man sieht, zu Koalitionen gezwungen, Rechte und Linke müssen zusammenhalten, sind aber ideologisch zerstritten. Bald ist auch Salzer stolz darauf, wie gut er schießen gelernt hat. Sein zweites Leben kann beginnen.

„Durch den Terror im Buch kam ich nach dem 11. September zum ersten Mal ins österreichische Fernsehen“, eröffnet Molden mit einem breiten Grinsen das Gespräch in einem faden Lokal bei einem schalen Bier – langsam ist es genug mit den Kaffeehäusern – und erklärt dann, was ihn eigentlich zu seinem Roman inspiriert hat. Der „Rückzug ins Unbeobachtete“, erklärt der Vierunddreißigjährige, der sonst auch noch Gitarrist und Songwriter ist, „funktioniert hier ganz prima. Österreich hat viele dunkle Ecken auf dem Land.“ Wild gestikulierend erzählt er von den Briefbomben Mitte der Neunziger in Wien, bei denen man zwei Jahre lang davon ausging, dass eine kleine Privatarmee dahinter steckt. „Nun soll es angeblich nur einer gewesen sein, ein verwirrter Einzelgänger, dieser Franz Fuchs“, sagt er. Er erzählt, dass es für einige seiner Widerstandskämpfer im Buch reale Vorbilder gegeben habe, die er zum Beispiel kennen gelernt hat, als er eine Reportage über sie geschrieben habe.

„Wir müssen uns daran gewöhnen“, meint Ernst Molden, „dass sehr viele Menschen aus sehr vielen verschiedenen Gründen nicht daran glauben, dass die Gesellschaft, in der wir leben, gut funktioniert. Sei es aus Neid, aus religiöser Brüskierung, sei es, weil sie nicht daran teilnehmen dürfen.“ Glaubt man Molden und seinem Buch, dieser herrlichen Parodie auf ziemlich viele Fluchtziele, die sich die Menschheit bisher so ausgedacht hat, glaubt man auch Daniel Kehlmann und Xaver Bayer, die ihre Fluchtversuche aus dem Ruder laufen lassen, so ist die große Zeit der Fluchtgeschichten nicht nur in Österreich längst angebrochen. Jetzt kann es nur noch darum gehen, sie gegen ihre Ziele zu verteidigen.