Mach mal Foto

Aus einem Schuss lernen: Wie Menschen aus Versuchsanordnungen verschwinden. Im Tagungsband „Über Schall“ untersuchen die „neuen Experimentalisten“ das Verhältnis von Fotografie und Physik

von DANIEL TYRADELLIS

In den 1880er-Jahren bekam die Formulierung „ein Foto schießen“ eine neue, ganz und gar unmetaphorische Bedeutung. Ernst Mach und sein Mitarbeiter Peter Salcher hatten sich eine raffinierte Versuchsanordnung ausgedacht, durch die erstmals ein abgeschossenes Projektil samt seinen Luftströmungen auf eine fotografische Platte gebannt werden konnte. Dieses Experiment ist das zentrale Thema des Bandes „Über Schall“; er geht zurück auf eine Tagung an der Universität in Frankfurt an der Oder im Mai 1998.

Ein Buch wie dieses wäre ohne Michel Foucaults an Nietzsche geschulter Genealogie undenkbar. Nach der fortschrittsmetaphysischen bzw. ideengeschichtlichen Wissenschaftshistorie scheint nun die fächerübergreifende Arbeit der Medien- und Wissenschaftsgeschichte am Drücker. Der „neue Experimentalismus“ steht für eine heterogene Forschungsbewegung, die, wie die Herausgeber in der Einleitung schreiben, „in den letzten zwei Jahrzehnten die sozialen Handlungen, in deren Ablauf Experimente stattfinden, die technischen Bedingungen des Experimentierens, die Eigenart experimenteller Vorgehensweisen in ihrer Ausrichtung auf ein notwendig noch unbekanntes Objekt des Wissens und die Funktion von Repräsentationsvorgängen hierbei untersucht“. Denn Differenzen des Wissens sind gebunden an die Bedingungen ihrer technischen Repräsentation. Art und Richtung des Fortschritts sind davon nicht mehr zu trennen.

Die Herausgeber des ansprechend aufgemachten und reich bebilderten Bandes (dem man allerdings ein etwas sorgfältigeres Lektorat gewünscht hätte) betonen jedoch zugleich, es wäre vermessen „zu glauben, dass mit einem Buch die Geschichte auch nur eines Experiments vollständig zu schreiben wäre“. Das ist wohl wahr, führt jedoch auf eine falsche Fährte. Denn Vollständigkeit kann nicht einmal ein anzustrebendes Ziel sein, da sie niemals möglich ist; das (epistemische) Ding an sich gibt es nicht. Gerade der Bezug auf Foucault und seinen Begriff des „Dispositivs“, der von den meisten Autoren des Bandes verwendet wird, sollte eher dazu anhalten, das Perspektivische jeder historischen Forschung und die damit einhergehende vermeintliche Ungerechtigkeit gegenüber dem Material zu bejahen.

Demgegenüber kann man bei der Lektüre des Buches nicht immer unterscheiden zwischen sorgsamer Akribie und der Furcht, etwas über die so genannten Fakten Hinausgehendes zu sagen. Wohl in dem Bemühen, diesen Fakten möglichst wenig Gewalt anzutun, beginnt das Buch mit einem ausführlichen Materialteil, bestehend aus faksimilierten Notizblättern Machs samt Transkription und einem sorgfältigen Kommentar, sowie einem Reprint des entscheidenden Aufsatzes von Mach und Salcher von 1887.

Der zweite Teil, der aus zehn Beiträgen von Wissenschafts-, Medien- und Kunsthistorikern besteht, informiert detailreich über die Experimentalanordnung, ihre (Vor-)Bedingungen, Nachwirkungen und Ergebnisse. So zeigt Susanne Holl, wie der Schall vor diesem Experiment repräsentiert wurde und in welcher Weise die vorfotografischen Speichermedien das Wissen vom Schall selbst formiert haben. Von hier aus lässt sich die Differenz ermessen, die die fotografische Darstellung für das physikalische Weltbild bedeutet. Peter Krehls und Stephan Engemanns Text bewegt sich ebenfalls in der Sphäre vor der Fotografie und beschäftigt sich mit dem Physiker August Toepler (1836–1912), der die Schlierenmethode zur Wahrnehmung von Luftbewegungen entwickelte.

Wolfgang Hagen beschreibt am Leitfaden von Heinrich Hertz die Verschränkung von Physik und Medien, die gemeinsam ein „epistemisches Ding“ (H.-J. Rheinberger) produzieren, das ein Eigenleben gegenüber den Intentionen derjenigen hat, die es entdeckt und erforscht haben. Er zeigt, wie die Fotografie „zum Attraktor der Reformulierung ganzer Forschungsrichtungen“ in der Physik wurde.

Herta Wolf kritisiert den in der Fotografiegeschichte verbreiteten Glauben daran, dass die Fotografie im 19. Jahrhundert vor allem als ein Besser-Sehen verstanden worden sei. Anhand der Analyse verschiedener fotografischer Experimente Ernst Machs kommt sie mit diesem zu dem Schluss, „dass wir niemals in der Lage sind, eine Fotografie objektiv zu betrachten“. Vielmehr machen Fotografien überhaupt erst etwas sichtbar und sind nicht bloß eine verbesserte Wahrnehmung des ohnehin zu Sehenden.

Christine Karallus weist in ihrem Beitrag darauf hin, dass ohne die Erfindung und Verbesserung der Bromsilbergelatineplatte die Mach’schen Fotografien gar nicht möglich gewesen wären. Für Peter Geimer besteht der Clou der Geschossfotografien darin, dass das Geschoss das Bild selbst auslöst und sich auch noch selbst belichtet. Der Mensch wird aus der Versuchsanordnung weggekürzt.

Der bei weitem umfangreichste und vielfältigste Beitrag von Peter Berz zeigt, wie die strahlenphysikalischen Forschungen Machs die Entwicklung der Düse befruchtet und damit im 20. Jahrhundert den Raum jenseits von „Mach I“, also des Überschalls, eröffnet haben. Diese Spur verfolgt Berz über Peenemünde und die V 2 weiter bis zu den amerikanischen Forschungen zum Bau von Düsenflugzeugen in den späten 1940er-Jahren. Berz’ Beitrag endet mit dem Mythos amerikanischer Testpiloten von Düsenjets, die im Unterschied zu dem menschenlosen Mach’schen Experiment bis auf weiteres für die Versuchsanordnung unverzichtbar sind: „Der Held ist der, der aus dem Reich des Dämons Daten mitbringt.“ Man kann dies auch als Credo der Anhänger des neuen Experimentalismus lesen.

Christoph Hoffmann und Peter Berz (Hrsg.): „Über Schall. Ernst Machs und Peter Salchers Geschossfotografien“. Wallstein, Göttingen 2001, 472 Seiten m. zahlr. Abbildungen