Eine Nacht in der Sukhumvit Road

Das literarische Kneipenquartett: Ein Gespräch in der Bangkok Bar, ebendort, über den abwesenden Herrn Houellebecq, dessen lang erwarteter und kontrovers diskutierter Sextourismusroman „Plattform“ kommende Woche auf Deutsch erscheint

von SVEN LAGER

Die Sukhumvit Road führt vom Zentrum Bangkoks in Richtung Osten ans Meer und schließlich nach Kambodscha. Während das alte Zentrum mit den Tempeln und Parks, Chinatown und Königspalast vom schlammbraunen Chao Praya umarmt wird, ragt die Sukhumvit Road daraus hervor wie eine Antenne mit unzähligen Ablegern.

In den niedrigen, Soi genannten und abwärts gezählten Seitenstraßen nah am Zentrum hat sich in den Siebzigern die Nachhut der GIs mit Massagesalons, Irish Pubs und deutschen Metzgereien niedergelassen. Weiter oben sind in den 80ern die Surferboys und Computergeschäftler gestrandet und im stetigen Strom der teigigen Geschäftsmänner aus Amerika und Europa aufgegangen.

Wir wohnen in der 63. Soi der Sukhumvit. Der Skytrain hoch über der Erde macht die Zeitreise ins Zentrum alle paar Minuten. Gestern habe ich die ersten Rucksacktouristen gesehen, die windschief an der verrußten Durchgangsstraße entlangwanderten und staunten. Um uns herum eröffnen überteuerte Restaurants und poshe Clubs, japanische Karaokebars säumen die Nebenstraßen, und belgische und englische Supermärkte füllen den Leerstand, der seit 97 herrscht, als die Wirtschaft zusammenbrach. Die Gegenwart ist hier angekommen. Es ist Ende Januar, die heiße Zeit beginnt.

Mit Oon und George bin ich in der Bangkok Bar verabredet, einem kleinen Club um die Ecke, wie er auch in Berlin-Mitte oder in Köln liegen könnte. Schrabbelige, aber stilvolle Schalensitze und ein DJ, dem keiner zuhört. Auf meinem rechten Ohr die süßliche Clubmusik, auf meinem linken das gemeine Uff-Uff-Uff einer Technobar nebenan. Wir trinken Bier und scherzen gerade über den Politikersohn, der als Mörder gejagt und gleichzeitig regelmäßig von seinem Vater in einem kambodschanischen Casino besucht wird. Über Dr. Kimble, den deutschen „Tycoon“ und dicksten Hochstapler aller Zeiten. Die Thais sind unförmige Männer aus dem Westen gewohnt, aber über Kim Schmitz haben sie gestaunt.

Wir sind bei Houellebecq und dem ersten Errdbeermargherita angekommen, als Jana eintrifft. Jana arbeitet für den WDR. Trotz der Wärme trägt sie einen dünnen rosa Pulli. Oon redet weiter, während George aufsteht und Jana seine große Hand gibt. George trägt ein kariertes Flanellhemd, um nicht zu intellektuell zu wirken. Beide haben in New York Filmtheorie studiert und sich dort kennen gelernt. Sie sind ein typisches Paar aus reichen Thaifamilien, cool und ohne wirkliche Beschäftigung. Oon trägt Schwarz und eine Hornbrille, die sie noch magerer erscheinen lässt.

„Natürlich ist das nur ein Witz, Houellebecq meint das ironisch“, sagt sie und fuchtelt mit ihrer Zigarette.

„Wieso“, widerspreche ich ihr, „in ‚Plateforme‘ kommen keine Thais vor, außer den Nutten, und die sind die einzig guten Menschen in dem Buch. Houellebecq zweifelt doch nur an seiner eigenen Kultur.“ Jana lächelt unverbindlich und streckt ihr Kreuz durch. Sie überragt Oon selbst im Sitzen um einen Kopf. Wie Oon behauptet sie, den neuen Roman von Houellebecq an nur einem Abend auf Französisch verschlungen zu haben.

„Ach Quatsch, ohne westliche Einflüsse wären wir immer noch dumme Reisbauern“, sagt Oon knapp. George schmatzt zustimmend und pult sich demonstrativ in den Zähnen.

Wir beobachten eine Blumenverkäuferin, die an einem Klapptisch an der Straße sitzt und Jasminblüten auffädelt. Eine Neonröhre beleuchtet sie. Eine Hand mit großer Rolex reicht aus einer glänzenden Limousine Kleingeld für einen Kranz, dann biegt der Wagen auf den Parkplatz des „Piano“, einem hell erleuchteten Amüsierclub für Neureiche.

„Ich glaube, Houellebesch“, Jana zögert bei der Ausprache des Namens und nimmt einen Schluck Mineralwasser, „ich glaube, Houellebesch spricht von einem Austausch, von Arm und Reich, jeder hat, was der andere braucht.“ Jana wohnt selbst erst seit einem Monat hier. Oon sieht ihr demonstrativ auf ihre großen Brüste.

„Ach, alte Kamellen, Unverdorbenheit gegen Macht, Sex gegen Geld. Bei HouelleB E C K ist das nur Provokation. Die hässlichen Männer gehen zu den Nutten, weil sie sonst keine abkriegen, und die Nutten kaufen sich davon billige Goldkettchen und Handys und Stereoanlagen wie überall auf der Welt. HouelleBECK ist Sextourist. Affirmation als Kritik. Das weiß doch jeder.“

Jana ist irritiert und pickt eine gesalzene Cashewnuss von Georges Teller.

„Aber Houellebecks hat das doch gar nicht nötig. Für ihn ist die traditionelle Kultur der Thais seiner überlegen. Ich meine, er sehnt sich doch nach Religion und Familie und beneidet die Thais darum.“

Oon zieht George den Teller weg und seine salzigen Finger greifen ins Leere, dann lächelt sie überlegen und zwickt mich in den Arm. „Warum kommen die vielen westlichen Männer jedes Jahr nach Thailand, hm? Zum Beten? Kannst du mir das sagen, hm?“

In der Bangkok Bar sitzen für gewöhnlich Thais, die skandinavisches Design schätzen und an wässrigen Mojitos nippen, aber heute hat sich ein Pulk junger Engländer festgezeckt, die wegen der neuen Sperrstunde um eins besonders laut grölen. Ich sehe einem von ihnen zu, wie er seiner schlecht gelaunten Thaifreundin den Nacken krault. Sie versteht den Dialekt nicht.

„Oon, sie kommen her, weil sie ficken wollen und was Gutes tun. Zu Hause sind sie nichts, White Trash, hier sind sie Könige.“ Ich bemerke Janas Fuß, der mit Georges Hosensaum spielt, „zu Hause wollen die Weiber immer nur reden, hier wollen die Mädchen Sex und verstehen kein Wort.“

„Irony is over, baby“, sagt George übermütig und stößt eine leere Bierflasche vom Tisch. Mit rotem Kopf taucht er wieder auf.

„Und du diskutierst lieber, hm?“

„Oon, du nervst. Ich steh nicht auf Thaifrauen. Inderinnen und Japanerinnen sind ehrlich gesagt hübscher.“

Jana, George und Oon sehen mich entgeistert an.

„Du magst Thaifrauen nicht?“ Oon tritt Jana ans Bein.

„Natürlich mag ich sie und von Anfang an dachte ich, sie sind viel zu nett für die Horden hässlicher und dummer Sextouristen. Aber durch meine Nachbarn habe ich verstanden, warum die zarten Thaimädchen und die grobschlächtigen Männer zusammenpassen. Die Männer sind Masochisten.“

„Wie bitte. Und die Mädchen sind die Sadisten?“, fragt George und drückt am Wachs der Kerze herum.

„Wenn man so will, ja. Ist euch nie aufgefallen, dass die einzigen englischen und deutschen Bücher, die man hier in den Supermärkten findet, Ratgeber für überforderte Farangs sind?“ (Farangs werden alle kaukasischen Ausländer genannt).

„Mein Lieber, ich glaube, du verwechselst da was. Weißt du, wie viele Kinder hier jedes Jahr zur Prostitution gezwungen werden? Weißt du, was ein chinesischer Geschäftsmann für eine Jungfrau bereit ist zu zahlen?“ Ich bin für einen Moment überrascht von Oons Verwandlung von einer Upperclass-Intelektuellen in eine engagierte Soziologin.

„Das meine ich nicht. Das gibt es unter anderen Vorzeichen genauso bei uns. Ich habe 23 verschiedene Ratgeber entdeckt, die dem weißen Mann helfen sollen, mit seiner Thaifreundin zurechtzukommen.“

„Aber da verwechselst du doch Täter und Opfer“, wirft Jana ein und wischt sich unsichtbare Fussel vom Pullover, während uns die fünfte Erdbeermargherita serviert wird, „Prostitution erniedrigt doch die Frauen und nicht die Männer!“

„Genau, und die Erniedrigung bekommen sie zurück, denn die Männer verlieben sich ja in ihre Opfer und versuchen sich die Liebe zu erkaufen. Und das geht immer schief.“

„Mein Lieber“, sagt Oon streng und nimmt die Brille ab, „die Mädchen kommen aus den ärmsten Verhältnissen, haben keine Bildung und in unserer Gesellschaft sind sie nichts. Als Prostituierte fallen sie nicht mehr tief. Der Farang gibt vielleicht Geld, Krankenversicherung und Freiheit und ernährt die restliche Familie, aber kein Thaimann würde sie auch nur ansehen. Und wenn, dann würde er sie betrügen und schlagen, weil es eine Männergesellschaft ist, oder, George?“

George reckt die Faust und ruft „Lang lebe das Matriarchat!“ und Jana verhindert gerade noch, dass er vom Stuhl fällt. Oon füllt ihren Rest Margherita in mein Glas.

„Mit den GIs und den deutschen Mädchen war es doch genauso nach dem Krieg. Der deutsche Mann hat sie bespuckt, aber mit einem GI als Freund haben sie sich emanzipiert.“ Ich nehme Oon die Brille ab.

„Ich habe gelesen“, sagt Jana vorsichtig, „dass viele Mädchen nach Bangkok zurückkommen, obwohl man ihnen Arbeit in ihrer Heimat gegeben hat.“

„Natürlich kommen sie zurück“, sagt Oon nachsichtig, „was sollen sie von einem schlecht bezahlten Job nach Hause kommen und auf dem Boden schlafen mit den Fliegen. George, reiß dich zusammen!“ Sie gibt ihm eine Kopfnuss, als er sich auf dem Tisch ausruhen will.“

„Insofern hat dein geliebter Houellebecq Unrecht mit seinem versteckten Humanismus …“, sage ich, aber Oon fährt mir dazwischen: „Ich LIEBE doch nicht Houellebecq, er ist einfach nur ein Genie!“

„Dein Genie“, sage ich, „hat keine Ahnung. Bei ihm klingt das, als würden sich die Herrschaften mit den Dienstmädchen vergnügen und die wären letzten Endes auch noch dankbar, denn als Herr hat man nichts zu lachen.“

„Aber Hoeullebecq …“, sagt Oon.

„Du bist jetzt mal still“, fährt ihr George dazwischen, „alle Weiber fallen auf Houellebecq rein, Hoeullebecq hier, Houellebecq da. Houellebecq ist ein schmieriger kleiner Intelektueller, der Kette raucht und sich den ganzen Tag einen runterholt!“

„Du hast wieder von nichts eine Ahnung. Wenn’s dir nicht passt, dann geh doch wieder zu deiner kleinen Freundin, der Serviererin!“ Oon stürzt meinen Drink herunter.

„George hat eine Freundin?“, frage ich ungläubig, aber George hat sich auf Janas Schoß gelegt und die Augen geschlossen. Wir schweigen. Auf einmal kracht die Tür der Technobar nebenan auf und ein Mann stürzt auf die Straße, gefolgt von einer winzigen Thaifrau, die mit der Handtasche auf ihn einschlägt. Er trägt trotz der Hitze einen Anzug. Als die Frau endlich von ihm ablässt, kommt er herüber. Er wischt sich umständlich das schweißnasse Gesicht ab und stellt sich uns vor.

„Guten Tag, ich heiße Joachim Lottmann und habe soeben den großen französischen Dichter Michel Houellebecq persönlich getroffen.“ Die Engländer am Nebentisch grölen. Englisch war noch nie seine Stärke.

Sven Lager ist Schriftsteller und lebt in Bangkok und Berlin. Zusammen mit Elke Naters gab er zuletzt „The Buch. Leben am Pool“ heraus, eine Textsammlung, die aus dem Internetforum ampool.de entstanden ist. Im Mai wird sein Roman „Im Gras“ erscheinen