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: HELMUT HÖGE über schillernde Persönlichkeiten

Heute: die Frühaufsteher

Kürzlich musste ich früh aufstehen, um eine „Blattkritik“ zu machen – und dazu musste ich erst einmal das Blatt zuvor gründlich gelesen haben. Anschließend war ich noch müder, aber ich sollte noch eine Kolumne schreiben. Was lag da näher, als sich – antriebslos und mit leerem Kopf – für diesmal klassisch journalistisch aus der Affäre zu ziehen – und mir einen (Text) zu ergoogeln.

Computer angeschmissen, die Suchmaschine angeklickt – und dann das Wort „Frühaufsteher“ eingegeben: 6.980 Eintragungen gab es dazu. Bei „Frühaufsteher Berlin“ waren es noch 1.060, bei „Kreuzberg“ – wo bis zur Wende die Nächte angeblich besonders lang waren – noch 38 Eintragungen.

Die erste kam von einer Kreuzberger Flüchtlings-Initiative, die zu einem „antirassistischen Einkauf“ – um Punkt 12 Uhr – bei Reichelt aufrief. Das war nicht besonders früh! Die zweite „Frühaufsteher“-Eintragung hatte ihren Termin jedoch noch später angesetzt. Es handelte sich dabei um eine „Latin Parties“-Initiative, die diesbezügliche Clubs aus ganz Deutschland mit ihren Programmen vorstellte. Die dritte Eintragung bestand ebenfalls aus Club-Adressen – jedoch für Blues- und Jazzfans, wobei Google mir die Kreuzberger Regenbogenfabrik rausgesucht hatte, die laut eigener Einschätzung „nix für Frühaufsteher“ sei. Im Gegensatz zum Qigong-Zentrum in der Zossener Straße, deren chinesische Heil- und Meditationsangebote angeblich nicht nur für Frühaufsteher ihren „Reiz“ hätten. Man fängt dort also schon sehr früh an – das kennt man ja von den Chinesen.

Noch früher aber fängt die Schülerredaktion einer Radiosendung des Berliner Offenen Kanals an: nämlich um zwei Uhr nachts. Darauf folgen eine Jungle World-Reportage über einen ebenfalls recht frühen Polizeieinsatz in Kreuzberg, die Frühaufsteher-Tipps einer Morgenpost-Redakteurin und eine Güterabwägung zwischen den optimalen Öffnungszeiten fürs Prinzenbad und den Wünschen einiger Frühaufsteher. In der nächsten Eintragung behauptet das Videodrom „Filmfreaks sind Frühaufsteher“. Und in einer weiteren meint der „Künstlerbedarf Ebeling“, für Frühaufsteher sei der Laden genau der richtige. Vorm Amtsgericht protestierten „250 wetterfeste Frühaufsteher“ – gegen eine Ortsveränderung.

In der Berliner Zeitung ist davon die Rede, dass viele Verbände nach Berlin ziehen, denn man muss früh aufstehen, um erfolgreiche Lobbyarbeit zu betreiben. Ein weiterer Zeitungsbericht handelt vom hoffnungsvollen Nachwuchs im Backgewerbe: „Frühaufstehen ist kein Thema mehr“, meint ein gewisser Zernicke, dessen Arbeitstag in einer Bäckerei in der Mariannenstraße oft schon um zehn Uhr abends beginnt.

In einem Wahlinfo wird vom Finanzsenator berichtet, dass er als Frühaufsteher bereits morgens zur Wahl ging. Der Tagesspiegel schrieb über das derzeit kaum noch vorstellbare Schnee-Chaos auf den Straßen – es sei besonders für Frühaufsteher unangenehm. Eine Rockband, die auch von Satanisten gerne gehört wird, hat „für alle Frühaufsteher ein fettes Grunz“ auf ihrer Webpage übrig. Und eine Kreuzberger Schwuleninitiative will fürderhin auch für „Frühaufsteher“ attraktiv sein. Der letzte Eintrag stammt von den Deutschrockern Rod Army, in deren Gästebuch sich unter anderen auch ein „Frühaufsteher“ zu Wort meldete …

Summa summarum: Die Frühaufsteher, das sind – zumindest in Kreuzberg – immer noch so etwas Ähnliches wie die „Besserleger“ beim Golf. Es ist schön und gut, wenn sie es tun – die Frühzüge und Gewerbeimmobilien fahren beziehungsweise stehen nicht so lange leer usw. Aber wie leicht kann diese Tugend in Besserwisserei oder gar Penetranz ausarten. Diese Erkenntnis war mir erstmalig bereits 1970 gekommen – damals hatte ich gerade einen Ferienjob in der Kreuzberger Eierlikör-Fabrik Verpoorten angetreten und musste ab sechs Uhr morgens am laufenden Band Eier zerschlagen: hunderte und tausende. Dabei war ich irgendwann ins Grübeln gekommen. Jetzt wird diese ganze Scheißarbeit vom Internet geleistet. Was natürlich einen enormen Persönlichkeitsverlust zur Folge hat. Aber es ist besser so …