Subjektiv ist besser

Abwinkende Durchblicker: Eine handverlesene Kritikerrunde diskutierteim Literarischen Colloquium Berlin die „Positionen der Literaturkritik“

Wenn alle den neuen Grass besprächen, sei das ein richtiges Marktgeschrei

von FALKO HENNIG

Ein bisschen Angst hatte ich schon. Über eine Veranstaltung zum Thema „Positionen der Literaturkritik“ zu schreiben, was konnte das anderes sein als staubtrockene Vorträge, beklopft von immer denselben happy few des Literaturbetriebes?

Aber Job ist Job, und, oh Überraschung, die Villa des Literarischen Colloquiums Berlin ist überfüllt, bis ins Foyer stehen die Neugierigen. Mir scheint es ganz einfach: Da ist der Buchautor, also ich, der will für seine Bücher Lob und Hilfe. Was bekommt er? Kritik. Wahrscheinlich werden sie meinen zweiten Roman auch Anekdotensammlung nennen.

Der Rezensent will eine Rezension schreiben, angeblich werden Debütanten gelobt und dann beim zweiten Buch verrissen, aber Ausnahmen gibt es immer: Reich-Ranicki verriss Rainer Merkels Debütroman „Jahr der Wunder“, das Buch wurde dadurch ein Verkaufserfolg, oder doch wegen seiner literarischen Qualitäten? Dieter Stolz, der Hausherr, beginnt: Heute hier nur Kritiker aus Berlin, ohne Herrn Hehnel von der deutschen Wirtschaft hätte das Ganze nicht stattfinden können. Herr Hehnel bekommt das Wort, einen Kritikerpreis haben sie ausgelobt, eine Jury hat für die Preisverleihung an einen Nachwuchskritiker Kriterien einer guten Kritik festgelegt.

Es beginnt die erste Runde, moderiert von Norbert Miller. Siegrid Löffler kenne jeder in Deutschland, damit meine er den deutschsprachigen Raum, aber sie darf nicht anfangen, es beginnt alphabetisch mit Reinhard Baumgart. Der stellt sich vor als dienstältester Kritiker und will einen zügigen Ablauf gewährleisten. Ja, doch, der Kritiker sollte ein Journalist sein. Jede Darstellung eines Buches sei mit Urteilen durchsetzt. Ob der Kritiker auch ein Autor sei? Heißenbüttel, Rühmkorf und andere hätten das gewagt, wir dagegen seien zurückgefallen in die Barbarei. Der Kritiker solle der Fachmann seiner Leseerfahrung sein, er gebe dem Werk nur seine subjektive Bedeutung. Ein Fachmann dagegen müsse alle Bedeutungen entfalten. Ob der Kritiker auch ein Leser sei? Der zum Fachidiot degenerierte Rezensent lese nur noch für einen Zweck. Braucht das kritische Urteil Vorurteil? Ja, das Buch werde nicht neu erfunden, aber man solle auf Überraschungen lauern, auf die Kafka’sche Axt für das gefrorene Meer in uns. Wer als Partisan einer Avantgarde schreibe, sollte sich als Literaturagent enttarnen. Etwas sei das Rezensieren doch erlernbar, ein Schreibkurs würde also nicht schaden, so wenig wie sonderlich nützen. Ob Kritik nützlich ist? Die literarische Welt ohne Kritik sei mit Grausen durchaus vorstellbar, werde aber Literatur als Kunst verschwinden lassen.

Der Moderator übergibt das Wort an Helmut Böttiger. Der erinnert an seinen Namensvetter aus der Goethezeit, der am Weimarer Hof wegen seiner Rezensententätigkeit als „Vogelscheuche“ oder „Arschgesicht“ bezeichnet worden sei: der Kritiker als Literaturparasit. Goethe sei froh gewesen, als er endlich weg war. 168 Jahre nach des Kritikers Tod sei ein Buch seiner Kritiken ein großer Erfolg geworden. Heute seien anstelle der Genies die Medien getreten, die damalige Literaturkritik finde ihr Pendant in heutigen Talkshows. Kritik als eigenständige Gattung sei von Schlegel und Lessing begründet, von Benjamin zu einer eigenen Textgattung entwickelt worden. Dabei gebe es bestimmte Moden, im Moment habe ein blasierter, müde abwinkender Durchblickerton Konjunktur. Jedenfalls solle auch mit der Kommunikationswissenschaft der Gegensatz zwischen Akademischem und Klamauk überwunden werden, dort werde gelehrt, was Journalismus eigentlich sei.

Sigrid Löffler hat einen Debattentransfer von Amerika nach Deutschland beobachtet, nach dem die Dignität des Kritikers angezweifelt werde und der Konsument an seine Stelle trete. Der ökonomische Erfolg entscheide über die Wertigkeit von Kulturware, wo Jugendliche auf Homepages über Rockbands delirieren, und der Kritiker habe die Aura der Unfehlbarkeit verloren. Die Kritiker schüfen sich selbst ab, untergrüben ihre Autorität vor dem Publikum und kapitulierten vor dem Marktdruck. Je mächtiger die Verlagsgruppe, desto serviler die Rezensionen. Damit werde der Austausch zum Erliegen gebracht. Wenn alle den neuen Grass besprächen, sei das ein Marktschrei. Wenn der Kritiker ein Werbetexter sei, werde er nicht mehr ernst genommen. Die Distinktion werde Rudelverhalten geopfert, dabei solle der Kritiker die Kultur doch gegen den Strich des Kommerzes bürsten. Kultur brauche nicht nur Marktschreier, sondern auch Miesmacher, die sie genauso mies machten, wie sie sei.

Sie sei eine Kassandra, findet Baumgart, die aber durchaus ein neues Troja baue. An jungen Kritikern wie Belletristikautoren mit ernstem Urteil herrsche kein Mangel. Doch die Löffler bleibt kulturpessimistisch, Charts- Journalismus nehme zu, alles werde immer schlechter.

Jörg Magenau, dessen Buch über Christa Wolf sehnsüchtig erwartet wird, beginnt mit Erinnerungen. Als er acht Jahre alt war, habe er kein Kritiker sein wollen, auch später als Redakteur habe er sich lieber als Journalist bezeichnet. Das Kritisieren scheine ihm ein Spiel, der Maßstab sei die eigene Subjektivität.

Ich beginne über meinen Artikel nachzudenken. Es wäre ja langweilig, nur aufzuschreiben, was sie alles erzählen und wie sie aussehen. Natürlich wäre es schon spannender, wenn ich sie durchweg als schlecht angezogen, schielend, mit ungewaschenem Haar beschreiben würde. Ich könnte Beleidigungen wie „fette Schachtel“ oder „pomadisierte Yuppie-Sau“ einfließen lassen, das würde dem Artikel Tempo und Pfiff geben, und ich bewürde Lob vom Redakteur bekommen. Doch da erwähnt Magenau die letzte Buchmesse, eine Literaturagentin habe sich dort bei ihm bedankt: „Ihre Rezension kam genau zum richtigen Zeitpunkt, da können wir einen viel höheren Vorschuss aushandeln.“ Hatte ich schon erwähnt, wie gut angezogen, durch die Bank geistreich und charmant die Kritiker sind?

Falko Hennig ist Schriftsteller. Sein Roman „Trabanten“ erscheint im März.