Schalt ein und hör nie wieder auf!

Pekings unabhängige Kunstszene brummt vor Vitalität. Film, Musik, Kunst – in der chinesischen Hauptstadt probt eine junge Generation den Pluralismus der Ausdrucksformen. Einblicke aus der Binnenperspektive

von CUI QIAO

Von Europa ist Chinas Hauptstadt nur zehn Flugstunden entfernt. Besucher sind fasziniert von Pekings unvermitteltem Nebeneinander von modernen Hochhäusern, alten Gassen und traditionellen Wohnhöfen. Im Zeitfluss dieser tausendjährigen Stadt hat sich in den letzten Jahren eine begierige, kraftvolle Atmosphäre ausgebreitet: Junge Leute schreiten mit so leidenschaftlichem Eifer und stürmischem Elan voran, als schlügen sie mit den Flügeln und könnten in den Himmel abheben.

In Pekings vibrierenden Nächten kann man die vorwärts drängende Leidenschaft spüren, ein Energiestrom entsteht, alles trifft sich in der heißen Nacht. Eine bekannte Schauspielerin auf einem riesigen Werbeplakat starrt Löcher in die Luft – ihr Blick ist mysteriös und offen. Aus einem Restaurant dringt laute Unterhaltung. Das Clubviertel Sanlitung ist überfüllt und von Lichtern erhellt. Jede Nacht gibt es Partys in den beliebten Bars – im „Jaulsport“, im „CD-Café“, im „Platz der Stimmen“, im „Happy Garden“. Rockbands verbreiten ihr Chaos. In den kurzen Pausen zwischen zwei Aufführungen laufen die Leute ins Freie, atmen die frische Luft tief ein. Bis in die frühen Morgenstunden kreuzen sie hin und her.

Im vergangenen Jahr erlebte die chinesische Metropole eine gigantische Feier, die die ganze Nacht dauerte: als bekannt gegeben wurde, dass Peking die Olympischen Spiele 2008 ausrichten wird. Danach folgten die erstmalige Qualifikation für die Fußballweltmeisterschaft und der Beitritt zur WTO nach fast zwanzig Jahren Verhandlungen. Ein altes chinesisches Sprichwort besagt: „Das Meer hat hunderte Flüsse in sich aufgenommen – Großzügigkeit ist das Größte.“ Peking mit seinen dreizehn Millionen Einwohnern ist selbst eine großzügige Stadt.

Eine der populärsten Rockbands heißt „Rose aus zweiter Hand“, in ihrem Rap „Lieber Zug, fahr schnell ab!“ rechnen die Mitglieder zynisch mit ihrem eigenen Leben ab: „Unser Leben wird eben fahren / Wohin? – Ins Glück / Unsere Liebe wird eben fahren / Wohin? – In die Ewigkeit / Unsere Jugendjahre werden eben fahren / Wohin? – In den Idealismus / Unser Traum wird eben fahren / Wohin? – In den Kindergarten / Unsere Liebe wird weiter fahren / Wohin? – Zum Orgasmus / Unser Leben wird weiter fahren / Wohin? – In die Verzweiflung / Unsere Jugendjahre werden weiter fahren / Wohin? – In die Erschöpfung / Unser Traum wird weiter fahren / Wohin? – In die Mülltonne“.

Die jungen Rockmusiker mit ihrem gefärbten Haar und den Tätowierungen haben ihre eigene verborgene Utopiegemeinschaft gegründet: Im „Baumdorf“, im Nordwesten Pekings gelegen, leben ein paar Dutzend von ihnen. Im Sommer gehen sie am nahen Kaiserkanal schwimmen, kalte Wassermelonen und bunte Gitarren im Gepäck.

Die meisten dieser jungen Musiker fühlen sich auf die eine oder andere Weise deprimiert und verletzt, sie suchen nach ihrem eigenen Standpunkt – und dadurch bewegen sie diese Welt, selbst wenn diese Veränderung ganz winzig ist. Vermutlich kennen sie nicht einmal den Ursprung ihrer Auflehnung. Auf alle Fälle haben sie die Gabe, Fröhlichkeit, Zuversicht und Kraft im Leben zu spüren. Die Jungen leben viel lockerer und selbstbewusster. Attitude is everything! ist für viele von ihnen zu einem geflügelten Wort geworden. Je nach Haltung kann man in Peking vier neue Typen unterscheiden: Es gibt die „kleinen Bourgeoisen“, die „entrüsteten Jungen“, die „IT-Elite “ und den „Soho-Clan“.

In Peking und Schanghai werden viele junge Menschen „kleine Bourgeoise“ genannt. Sie haben eine hervorragende Ausbildung und einen guten neutralen Geschmack; sie lesen das Wochenmagazin Lifeweek (die chinesische Time), Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“, die Werke von Italo Calvino und „Der Fänger im Roggen“ von Salinger. In ihren Diskmen laufen Jazz-CDs oder Platten von Popidol Wang Fei aus Hongkong. Sie lieben es, nachmittags im „Starbucks“ davon zu träumen, wie sie mit 35 in Rente gehen, ein großes Haus am Meeresstrand haben und schnellstmöglich eine Weltreise realisieren. Sie sind Fans des chinesischen Regisseurs und Theatermachers Meng Jinghui, dessen neuester Film „Fliegen wie eine Hühnerfeder“ das reale Leben eines verkrachten Dichters schildert.

Die meisten Mitglieder der „IT-Elite“ haben in den USA oder Europa erfolgreich in MBA abgeschlossen. Heute sind sie gerade einmal dreißig Jahre alt, haben ihre ersten Aktiengesellschaften gegründet und machen Dienstreisen um die ganze Welt. Sie lesen die Biografie von Jack Welch, dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden von General Electric, Forum, Time, die New York Times oder „Who Moved My Cheese? An Amazing Way to Deal With Change In Your Work and In Your Life“ von Spencer Johnson. Sie wohnen im Villenviertel für Eliten, Wall Street ist ihr Hinterhof, ihr Bild prangt auf den Titelseiten der Magazine. Und manchmal sind sie auch ganz nett: Sie fallen auf die Knie, wenn sie in einer Diskothek der Liebe auf den ersten Blick begegnen, werden in Chatrooms Mami genannt oder sie skaten ganze Nachmittage über den Platz des Himmlischen Friedens.

„Soho-Clan“ ist die Abkürzung für Freiberufler, die nur ihrem eigenen Willen folgen, der wie ein himmlisches Ross durch die Lüfte galoppiert. Der bekannte Wohnblock „Soho City“ ist ihr Lieblingswohnort. Der jüngste Vertreter ist der erst 18-jährige Han Han, der auf seine Ausbildung pfiff und einen Roman schrieb, der Talent mit Einfallsreichtum verbindet: Von seinen „Drei Schichten Türen“ wurden bereits 800.000 Exemplare verkauft. Im China des Internetzeitalter ist Han Han zum Sprecher von Millionen postmodernen jungen Leuten geworden. Er genießt größere Beliebtheit als Harry Potter.

„Entrüstete Junge“ werden die sensiblen Utopiegläubigen genannt, die Kunstfans und von sich selbst überzeugten Künstler. Sie lachen über den Satz von Literaturnobelpreisträger V. S. Naipaul: „Ich muss mich bei den Prostituierten herzlich bedanken.“ Sie streiten sich, wer den besten Roman des vergangenen Jahres geschrieben hat: Mo Yan oder Wang Anyi. In seinem überaus mythischen Roman „Die Sandelholzstrafe“ verbindet der Schriftsteller Mo Yan kunstvoll das Böse mit Glamour, wodurch die in seinem Roman besonders unrealistisch, großartig und stürmisch geschilderte Welt zum Testplatz für Humanität wird. Den renommiertesten Literaturpreis 2001 allerdings gewann die erstklassige Schriftstellerin Wang Anyi aus Schanghai, die eindeutige „Prägnanz“ als Ziel will: „Die Begierden der Menschen“, sagt sie, „sind so kompliziert, dass die einfache Entwicklung der Gesellschaft nicht innere Ruhe, Freiheit und Glück bringen kann.“

In den Neunzigerjahren tauchten auch zahlreiche Filmschaffende auf, deren Avantgardefilme im Vergleich zum gewohnten Mainstream lebendiger und individueller wirken. Ihre Subjektivität verhilft den Filmen zu großer Lebensnähe und Bedeutungsreichtum. Die unabhängige Filmszene im modernen China kann mit „Chaosästhetik im Zeitalter von PC und DV“ beschrieben werden. Eine DV-Filmkamera in der Hand zu haben, ist geradezu zum Symbol für ein bestimmtes Geschmacksniveau geworden. Bei aller Mode wird aber auch gefeiert, dass über die technische Neuerung das staatliche Privileg für Film und das Recht auf Meinungsäußerung wieder zum Volk zurückkehren: Die technische Revolution befreit die Gedanken. Die Leute greifen zur DV und suchen die Konfrontation mit ihrer realen Umgebung und ihrem oftmals harten Lebensweg. Hierbei fangen sie nicht nur oberflächliche Phänomene ein, sondern auch die Wahrheit ihrer Lebensphilosophie und ihrer Emotionen.

„Wenn du eine DV in die Hand nimmst“, hieß es in einer Deklaration auf Pekings erstem unabhängigem Filmfest, „solltest du wissen: Du hast das Recht auf Bild- und Meinungsäußerung. Du willst Stellung beziehen? Nur zu: Schalt ein und hör nie wieder auf!“ Auf dem Filmfest wurden unabhängige Filme, Experimente und Dokumente von Fachleuten und Filmfans gezeigt, die in den zurückliegenden fünf Jahren entstanden sind. Vor allem die Filme von Wu Shixian, Ying Weiwei, Hu Mage und Yang Fudong fanden beim Publikum viel Lob.

Noch professioneller war das Pekinger internationale Filmfestival „Moving Vision“ im vergangenen Jahr, das in Chinas bekanntesten Universitäten stattfand, der Uni Peking und der Uni Tsinghua. Die dort gezeigte Dokumentation „Entgiftung“ von Zhong Hua zeigt die scheiternde Wiedereingliederung eines Außenseiters in die bürgerliche Gesellschaft. Das Filmdebüt der Brüder Gao, „Zwanzig gekaufte Umarmungen“, ist die stumme zwanzigminütige Dokumentation eines ebenso komischen wie befremdlichen Kunstprojekts, bei dem die Entfremdung in der postmodernen Gesellschaft reflektiert werden sollte: die Gaos hatten zwanzig Bauarbeitern je zweitausend Yuan (250 Euro) gezahlt und sie aufgefordert, sich wechselseitig zu umarmen.

Das Yuanyang-Kunstzentrum im CBD-Viertel in Peking ist das erste unkommerzielle Zentrum für moderne Kunstausstellungen und Performances. Das Zentrum bietet die kostenlose Möglichkeit zu öffentlichen Ausstellungen und Präsentationen in den Bereichen Malerei, Skulptur, Film, Musik, Tanz, Theater und Mode. Die berühmten unabhängigen Künstler Wu Wenguang und Wen Hui inszenierten hier ihr kontrovers besprochenes Tanztheaterstück „Gemeinsam tanzen mit Bauarbeitern“: Dreißig tänzerisch unausgebildete Bauarbeiter tanzten mit zehn Profitänzern und variierten hierbei Verdrängung, Konflikt und Verständnis.

Die moderne Kunst hat in China nicht nur die Epoche des Kalten Krieges hinter sich gelassen. Indem sie sich auf die Ausdeutung des gesellschaftlichen Lebens konzentrierte, hat sie unverhofft die Rolle der Avantgarde übernommen. Als kritische und ästhetische Instanz wie als Medium des Ideenaustauschs hat sie viele Existenzgründungen ermöglicht.

Auch international sind chinesische Künstler mittlerweile aktiv – wie Qin Yufen, Zhu Jinshi, Cai Guoqiang, Xu Bing, Jiang Jie, Wang Guangyi, Yan Peiming, Ding Yi oder Huang Yingping. Sie alle versuchen, die Expressivität der modernen Kunst mit der Introspektion der traditionellen chinesischen Kultur zu verbinden.

Die Werke der „Zynischen Realisten“ Fang Lijun und Yue Minjun galten zu Beginn der Neunzigerjahre als Symbol für den erwachenden chinesischen Widerstandsgeist und seine einfallsreiche Sprache. Doch inzwischen scheinen sie zwischen Aufbruch und Resignation stecken geblieben zu sein. Dass die Protagonisten auf ihren Bildern resignierte Lumpenproletarier sind, täuscht darüber hinweg, dass die Künstler längst zur reichen Klasse gehören: Sie besitzen neue Autos, große Häuser mit Garten in Peking und der Provinz Yunnan.

Der neueste Stand der zeitgenössischen chinesischen Kunst wird in der bekannten und angesehenen Redgate Galerie und der Courtyard Galerie gezeigt. In letzter Zeit gab es einige Installationen und Performances mit Neigung zu blutiger Gewalt und Politisierung. Damit stießen sie beim Publikum auf Missbilligung. Die Modernisierung der Wirtschaft ist nicht gleichzusetzen mit der Modernisierung der Kultur.

Pekings Straßen sind unglaublich laut, aber auf manchen Kreuzungen, in manchen Momenten trifft man plötzlich zauberhaften Zen und Taoismus. Im Bus kann man eine sehr alte Kiefer in der Nähe der Nanlishi-Straße bemerken: Sie steht so still und leicht in der orangeroten Abendsonne, dass sie sich dem eiligen Strom der Fahrräder und der verrinnenden Zeit entzieht – als konzentrierte sie sich auf ihre eigene jahrhundertealte Geschichte. Sie gehört nicht zu diesem Ort, nicht zu diesem Moment, nicht zu diesen Leuten. Der Bus fährt am Hou-See vorbei, der Blick fällt auf die ruhige Wasserfläche und Lichtreflexe – alles wirkt klar und bedeutungsvoll weit.

Jeder schöne Augenblick hat tiefegründige Bedeutungen und ein eigenes Schicksal. Vielleicht sind die Entwicklungen des realen Lebens immer antizyklisch. Verführungen beeinflussen jederzeit unsere Lebenskreise, hinter Mutmaßungen gibt es vielleicht nur ein grenzenloses Grasland. Aber die Kraft zur Fortbewegung auf der Erde ist aufregend, nicht zum Verzweifeln. Zur Kreativität dieser Stadt gehört eine junge Generation mit eindrucksvollem Gefühl und dem Wunsch nach Freiheit.

Sonnenüberflutete Tage erlebt man in Peking zehnmal so oft und zehnmal so intensiv wie in Berlin. Unter im Wind raschelnden Silberpappeln kann man den schönsten goldenen Herbst auf der Erde genießen.

Frau CUI QUIAO, 27, stammt aus Peking und arbeitet in Berlin als Korrespondentin für das chinesische Wochenmagazin Lifeweek