Der gelassene Strippenzieher

Ein Moralist und Ironiker: Mit verästelten Erzählungen gelangt Robert Altman immer wieder zu detailgenauen Milieubildern. Bei der Berlinale präsentierte er seinen neuen Film „Gosford Park“

von BRIGITTE WERNEBURG

Es sind zwar nur zwei mächtige, wenn auch etwas wackelig wirkende Rolls Royce, die sich im schweren Landregen zum Herrenhaus von Sir William McCordle hinquälen. Trotzdem ist sein Anwesen plötzlich proppenvoll – was nicht zuletzt am mitgebrachten Personal der Herrschaften liegt, die sich auf dem Anwesen treffen. Schlagartig hat sich Robert Altmans Mannschaft in „Gosford Park“ also verdoppelt. So gibt es gleich zwei Mister Weissman: Den Hollywood-Produzenten, der in Großbritannien ist, um für seinen neuesten Charlie-Chan-Film zu recherchieren, und seinen Diener, der im Untergeschoss genauso genannt wird wie sein Herr im Stockwerk über ihm: Wir sitzen hier unten in der selben Rangordnung wie unsere Herrschaften oben, wird ihm erklärt.

„Gosford Park“ ist Robert Altmans Hommage an Jean Renoirs „La règle du jeu“ – eine Jagdeinladung aufs Land, wo das Gebaren einer Gruppe dekadenter Bourgeois, die alle über ihre Verhältnisse leben, zur Haltung der Dienerschaft parallel geführt, in ihr widergespiegelt und dekonstruiert wird. Und wo Renoir nach dem Mord sagt, „jeder hat seine Gründe“, weiß der Butler bei Altman, „wir haben alle etwas zu verbergen.“ Altman, um es gleich zu sagen, hat seine Hommage gemeistert. Und die Lust, mit der der Film seine Kennerschaft von den Ränken der britischen Upperclass in der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen feiert, spricht Bände.

Robert Altman wäre wahrscheinlich ein unerträglicher Moralist, wenn er nicht ein solch fulminanter Filmemacher wäre. Wenn er – der von sich sagt, mit der richtigen Besetzung seien schon 80 Prozent des Films gemacht – seinen Schauspielern nicht so viel Raum gäbe, dass sie über den Rahmen ihrer Rolle jeder Zeit hinausschießen dürften. Man erinnere sich an Jennifer Jason Leigh in „Short Cuts“, wie sie die Telefonsexarbeiterin Lois Kaiser zur herrlich verkommenen Schlampe hochspielt, gegen das Klagelied von der Entfremdung, das Altman mit diesem Part anzustimmen scheint.

Man darf ihn verdächtigen, dass ihm der Glanz, den die Umkleideräume hinter dem Laufsteg von Gaultier abwerfen, nur zum Aufbau der richtigen Fallhöhe dient, die er braucht, um das eitle Treiben der modischen Frau von Welt zu denunzieren. Aber dann kommt eben doch seine Neugier und sein echtes Interesse an dieser Pariser Welt des Prêt-à-porter in den Umschnitten innerhalb der dichten, simultanen Bild- und Tonebenen zum Tragen, und wenig belegt den Verdacht. Altman schaut sich die Sache einfach an. Nein, nicht wirklich einfach, er geht sie mit mehreren Kameras und aus vielfältigen Perspektiven an, und so geraten die Mode, ihre Designerstars, die schönen Frauen, das Geld und die Medien in Bewegung – ja, sie geraten richtig in Schwung. Und wenn darin eine Wertung steckt, dann wäre es wohl nur eine positive. Altman interpunkiert diesen Prozess hin zu den großen Schauen mit den mal boshaften, mal sentimentalen Anekdoten, die in diesem Text über die Mode wie Ausrufe- und Fragezeichen stehen und ihm seine rhythmische Struktur geben.

Dafür wird Altman geliebt und bewundert: für die Freiräume, die sich im komplexen Gewebe seiner Erzählungen immer wieder öffnen. Freiräume, in denen Altman nichts beweisen will, in denen er das vollkommen Unerwartete und Überraschende zulässt, wobei es ihm aber keinesfalls um die überraschende dramaturgische Wendung geht. Es geht ihm um das Unwahrscheinliche als das, was eben auch der Fall ist. In diesen Momenten, die weder kausal hergeleitet noch weiter folgenreich sind, erweist er sich als großer Ironiker, und womöglich ist der Moralist nur der Schatten, den der Ironiker werfen muss.

Im Schatten wirken die Farben gedämpfter, weniger schrill. Auch das ist bei Altman faszinierend zu beobachten: wie viel Ruhe, wie viel Gelassenheit in seinen komplexen Bild- (und immer auch Ton-) Montagen stecken. All das Talmi, das er an die Oberfläche hebt, sei es das von Nashville oder Hollywood, es übertrumpft doch nicht die verwaschenen Pastelltöne, die seinen Stil charakterisieren. In der Erinnerung scheint sich diese Tönung allerdings nicht wirklich durchzusetzen. Die Dichte des Sounds, die vielen losen Enden seiner Storys, die Unübersichtlichkeit seines Personals, das oft wie in „The Player“ oder auch jetzt bei „Gosford Park“ als eine Art All Star Crew antritt, nur das scheint hängen zu bleiben. Warum sonst ist man immer wieder überrascht, bei Altman liebevolles, detailgenaues Inszenieren zu finden, klassische Erzählformen? Der Film, mit dem er zuletzt auf einer Berlinale vertreten war – „Cookie's Fortune“, eine Hommage an Amerikas Süden –, ist ein Beispiel für dieses meisterliche, suggestive Erzählen.

Wenn sich der 77-jährige Robert Altman mit „Gosford Park“ noch einmal nach Europa und zu seinem Kino aufgemacht hat, dann hat es seinen richtigen und schönen Grund, dass er hier jetzt – nach „Buffalo Bill and the Indians“ 1976 – seinen zweiten golden (Ehren-) Bären der Berlinale erhält.