Heiliges Monstrum

Großer Bourgeois, höchst authentischer Linker, engagierter Intellektueller und potenzieller Globalisierungsgegner: Ganz Frankreich feiert mit Ausstellungen, Theaterinszenierungen und Lesungen den 200. Geburtstag von Victor Hugo

Victor Hugo bietet etwas für jeden Geschmack. Der Autor von Sozialdramen wie „Les Misérables“ und „ Der Glöckner von Notre-Dame“ hat sich literarisch auch mit dem Sklavenaufstand auf Haiti, mit dem Leben am Hofe, mit historischen Themen und mit Schriftstellerkollegen auseinander gesetzt. Er hat sämtliche Wendungen des 19. Jahrhunderts erlebt und die meisten mitgemacht – so mutierte er vom Monarchisten zum radikalen Republikaner –, er hat für alle möglichen noblen Ziele gekämpft wie für das Verbot der Kinderarbeit, für das Frauenwahlrecht und für die Abschaffung der Todesstrafe, und er war Abgeordneter und begnadeter Tribun im Parlament.

Victor Hugo (1802–1985) war der Prototyp des engagierten Intellektuellen und populären Schriftstellers. Schon zu seinen Lebzeiten kannten viele Franzosen seine Texte auswendig. Sehr früh wurde er auch mit Stipendien und Orden ausgezeichnet und in den illustren Kreis der Académie française aufgenommen.

Zwar musste Hugo im Zuge seiner Fehde gegen den „kleinen Napoleon“ beinahe 19 Jahre im Exil verbringen, doch defilierten zu seinem 80. Geburtstag hunderttausende von Menschen unter den Fenstern der Wohnung des nach Paris zurückgekehrten Hugo vorbei. Als Geburtstagsgeschenk wurde die Straße nach ihm benannt. Die Avenue Victor Hugo, die am Triumphbogen beginnt und bis zur westlichen Stadtgrenze führt, heißt heute noch so. Die Bronzestatue freilich, die auf dem nach ihm benannten benachbarten Platz stand, ist 1941 von den Nazis demontiert worden und nie wieder zurückgekommen. 200 Jahre nach seiner Geburt ist der tote Dichter, Intellektuelle und Politiker in diesem Jahr in Frankreich wieder brandaktuell. Das Erziehungsministerium empfiehlt den Lehrern, mindestens einen Text von Hugo im Laufe des Schuljahres lesen zu lassen. Mehrere hundert Ausstellungen, Opern- und Theaterinszenierungen sowie Lesungen im ganzen Land und die Neuauflage seines umfassenden kompletten Werkes sowie ein knappes Dutzend neue Biografien feiern ihn. Bürgerinitiativen berufen sich auf Hugos lebenslanges Engagement gegen Zensur und für Bürgerrechte.

Die Medien widmen ihm Sonderbeilagen. Und viele Politiker werden spätestens heute, am 200. Jahrestag seines Geburtstages, zu „Hugoliens“. Zum Auftakt der offiziellen Hugo-Feierlichkeiten setzte sich gestern ein ganzer Zug voller Journalisten, Intellektueller und Politiker von Paris aus in Richtung Osten in Bewegung. Das Pariser Kulturministerium hatte sie zu dem Geburtshaus Hugos in Besançon geladen, wo Premierminister Jospin und Kulturministerin Tasca persönlich eine Gedenkplatte enthüllen wollten.

Hugo hat zwar nur die ersten sechs Wochen seines Lebens in Besançon verbracht. Aber sein gewichtiger Name passt gut in die ostfranzösische Landschaft. Von dort kamen nicht nur zahlreiche soziale Neuerer – von den Anarchisten Proudhon und Fourier bis hin zu dem Maler Courbet –, sondern auch einige prominente Mitglieder der rot-rosa-grünen Mehrheit. Europaminister Moscovici, der seinen Wahlkreis in der Region hat, schrieb in diesem Jahr einen Hugo-Satz auf seinen Neujahrsgruß. Denn Hugo, der kaum ein Thema ausließ, hatte schon im 19. Jahrhundert die Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“ sowie eine gemeinsame europäische Währung prophezeit. Der frühere sozialistische Justizminister Badinter, der schon 1981 bei der Abschaffung der Todesstrafe den toten Dichter bemühte, erinnert jetzt wieder öffentlich an ihn.

Der Präsident des „Nationalen Gedächtniskomitees“, Bertrand Poirot-Delpech, beschreibt Hugo als „großen Bourgeois, der mit viel Ehre und Geld überzogen war“ und sein Leben dennoch als „authentischer Mann der Linken“ beendete. Globalisierungskritiker glauben sogar, dass Hugo nach Porto-Alegre gefahren wäre, „wenn er heute lebte“.

Die meisten Zeugnisse von Hugos Leben finden sich in Paris. In der Academie française sitzt heute eine Frau (die Historikerin Hélène Carrère d’Encausse) auf seinem Sessel Nummer 14. An der Place des Vosges, wo er mit Frau und Kindern in einem mit dunklen Holzmöbeln und Kitsch aus aller Welt voll gestopften Eckhaus lebte, befindet sich ein Museum über ihn und seine Epoche. Und die Nationalbibliothek, der er seine Manuskripte und Werke vererbte, organisiert Ausstellungen und Kolloquien.

Zu Hugos Privatleben gehörte eine Gattin (Adele), eine lebenslängliche Geliebte (Juliette) und zahlreiche Verhältnisse. Mit seinen beiden Hauptfrauen, die er beide mit ins Exil auf die britische Kanalinsel Guernsey nahm, wo es ebenfalls ein Hugo-Museum gibt, tauschte er hunderte von Briefen aus. Andere Mitglieder der Familie Hugo hinterließen weniger Spuren. Victors Bruder Eugène, der das Pech hatte, dieselbe Frau zu lieben, starb im Irrenhaus. Dort endete auch eine von Hugos Töchtern. Die andere stürzte sich in die Seine. Victor Hugos Söhne starben ebenfalls vor dem Vater, der heute in Frankreich als „heiliges Monstrum“ des 19. Jahrhunderts gilt.

DOROTHEA HAHN