Der göttliche Westen

DAS SCHLAGLOCH  von KERSTIN DECKER

Woran erkennt man Linke? Sie schreiben in der „Welt“ Artikel, warum der Krieg der USA gerecht ist

Nachts fangen sie im Fernsehen jetzt manchmal an zu denken. Nach Mitternacht. Das ist eine gute Zeit zum Denken, denn tagsüber muss der Mensch arbeiten. Außerdem schlafen die meisten dann schon, so stören die Denker niemanden. Diesmal dachten sie über die Besessenheit nach. Ich bin davon gleich wieder aufgewacht.

Es ging darum, dass wir im Westen mit unseren Besessenen nicht mehr richtig umgehen können. Eine Ethnologin war da, ein Psychiater, eine Frau, die gerade ein Buch über „Stalking“ geschrieben hat, und Eugen Drewermann. Eugen Drewermann ist ganz schön alt geworden und sah irgendwie leidend aus. Die Ethnologin nicht, die sah professoral aus. Und sie hatte eine Idee: Wenn der Westen mit seinen Besessenen nicht mehr richtig fertig wird, könnte man sie ja nach Hinterindien bringen. Oder nach Vorderindien. Jedenfalls gäbe es dort noch genug Priester und Schamanen, die sich mit so etwas auskennen. Drewermann sah jetzt noch leidender aus und deutete an, dass Hinterindien auch keine Lösung sei, weil dort die Aufklärung nicht angekommen sei. Und überhaupt: Gibt es das denn, Besessenheit?

Jetzt war ich hellwach. Houellebecq hatte doch gerade einen ähnlichen Vorschlag gemacht wie die Ethnologin. Houellebecq ist der, der mal gesagt hat, man solle entweder Gott haben oder einen Orgasmus. Im Liberalismus habe man weder noch. Leider können unsere Universalisten solche Konflikte nie denken. Ja, eigentlich habe der Westen – sagt Houellebecq – überhaupt keinen Sex mehr. Keine Besessenen und keinen Sex. Aber Hinterindien hat Sex. Oder Thailand.

Das steht in seinem neuen Buch „Plattform“. Eine ganz und gar zukunftsweisende Situation, findet der Autor. Wir haben alles, nur keinen Sex – und Thailand und Hinterindien haben gar nichts, nur ihre Körper. Eine Situation des idealen Tauschs, diagnostiziert Houellebecq. Das ist ja Marx. Der doppelt freie Lohnarbeiter, der nichts zu verlieren hat, als seine Ketten. Nur dass die Ketten auch schon weg sind. Er hat nur noch seinen Körper. Und genau das erkennt Houellebecq. Wir brauchen den globalen Zuhälter!

Ich glaube, man muss hier mal sagen, dass der Mann ungemein sympathisch ist. Letzte Woche im Deutschen Theater hat Houellebecq zum Beispiel die Szene mit der kleinen Thailänderin vorgelesen. Wie sie genau das mit ihm macht, was wir alle nicht mehr können. Nein, vorgelesen hat ein Schauspieler, aber Houellebecq saß daneben und hat uns dabei immer angeguckt. Er sieht ein bisschen aus wie Heinz Rühmann in der „Feuerzangenbowle“, ein vierzigjähriger Oberprimaner. Und gelächelt hat er. Streng genommen war das ja Pornografie im Deutschen Theater, aber die Franzosen wissen genau, wie man aus Pornografie Literatur macht. Bataille zum Beispiel. Gegen Bataille ist Houellebecq nun wirklich ein Anfänger. Aber Bataille gilt in Frankreich nicht etwa als Pornograf, sondern als Philosoph. Das liegt daran, dass die Pornografie bei Bataille und Houellebecq so melancholisch ist. Haben Sie schon mal einen melancholischen Porno gesehen? Gibt es nicht. Und genau darum ist melancholische Pornografie eben keine Pornografie mehr, sondern – Kulturkritik. Reiner Geist. Philosophie.

Houellebecq hat ganz nebenbei auch noch Marx’ Gewinner-und-Verlierer-Analyse verbessert. Marx hatte nämlich ein falsches Verhältnis zum Verlieren. Der Verlierer ist in Wirklichkeit der Gewinner, beim Sex. Ohne Totalverlust passiert hier gar nichts. Und das ist wichtig.

Houellebecq integriert das globale Verlierertum. Rein zahlenmäßig gesehen, besteht die Welt fast nur noch aus Verlierern, da muss man das Verlieren aufwerten. Es kommt darauf an, es positiv sehen.

Aber die Sache hat Grenzen. Die islamische Welt fällt schon wieder raus aus diesem Entwicklungshilfeprojekt. Mit der islamischen Welt geht so was einfach nicht. Auf die Idee, unsere Besessenen in den Irak zu bringen, ist auch noch keiner gekommen. Schon wieder eine Demütigung. Schon wieder steht der Islam als Globalisierungsverlierer da.

Nicht mal die Linken halten noch zur arabischen Welt. Die neuen Linken erkennt man an mehreren Dingen: Sie schreiben vor allem in der Welt, in der Welt schreiben ja fast nur noch Linke, sie finden den Krieg gut, ihre Kolumnen tragen Überschriften wie „Wir müssen gewinnen. Warum Amerikas Krieg gegen den Terror gerecht ist“, und außerdem finden sie, dass der Terror und die Ungerechtigkeit der Welt nichts miteinander zu tun haben. Sie können das auch begründen. Die Linken entdecken die Bibel wieder. Kain erschlug Abel. Wegen des Wohlstandsgefälles zwischen Kain und Abel? Nein, weil Kain eben Kain ist.

Zudem weiß Michael Walzer, eine Art US-Oberlinker, dass die USA Südamerika und Afrika noch übler mitgespielt haben als den Arabern, und trotzdem haben sie dort keine Terroristen. Andere gehen noch weiter. Wenn es wirklich an Gerechtigkeit mangelt auf der Welt, dann folgt die Kritik an diesen Zuständen zuerst aus unseren eigenen Imperativen, weil die universalistisch sind.

Der Westen hat die Position Gottes eingenommen. Und die Neulinken sind sein Sprachrohr. Allmächtigkeit und absolute moralische Legitimität fallen in eins. Wenn man lange genug Walzer liest, „Wir müssen gewinnen!“, versteht man das auch.

Aber warum kann Drewermann dann im „Nachtstudio“ erklären, dass der Westen sich auch wie ein Besessener benimmt? Darum ist er so misstrauisch gegen die Heilungen in Hinterindien. Weil man nie den ganzen Westen nach Hinterindien kriegt. Gott oder Besessener? Es ist aussichtslos, sich noch zurechtzufinden.

Die einen Linken schreiben immerzu Reden für den Krieg, die anderen Linken schreiben immerzu Reden gegen den Krieg. Das ist nicht gut. Drewermann hält Krieg für ein Krankheitssymptom, jedenfalls müsse man schon sehr krank sein, um Krieg zu führen.

Michel Houellebecq sieht aus wie Heinz Rühmann und lässt traurige pornografische Texte vorlesen

Henryk M. Broder, nun gut, der ist nicht ganz so links, findet, wer keinen Krieg führt, sei einfach zu feige. Darüber hat er jetzt auch ein Buch geschrieben. Was Broder am meisten aufregt, sind Leute, die meinen, es ist eigentlich nichts Neues passiert am 11. September. Also solche wie Baudrillard, Drewermann oder Sloterdijk.

Aber vielleicht kann man das erklären. Durch ihren Beruf. Und durch die Windstille der Geschichte in den Neunzigerjahren. Denn eigentlich ist in den Neunzigerjahren nichts weiter passiert. 1989 war das letzte wirklich historische Ereignis. Zeiten, in denen nichts passiert, sind aber gut, um darüber nachzudenken, was alles passieren könnte. Und das haben viele gemacht.

Baudrillard sagt, solange die Ereignisse stagnieren, muss man immer schneller denken als sie, wenn sie aber anfangen sich zu überschlagen, müsse man sofort wieder langsamer denken.

Also zerfallen die Menschen in zwei Gruppen. In der ersten sind jene, die vorher langsamer oder fast gar nicht gedacht haben und jetzt ganz außer Atem sind vom Aufholen. Und in der zweiten sind die anderen?