Was in kein System passt

Interpenetrationsschäden: Bei Ralph Hammerthaler muss ein Chefredakteur erfahren, dass es in der Liebe manchmal eben doch nicht hilft, den Soziologen Niklas Luhmann zu verstehen – „Alles bestens“

Etwas funktioniert nicht bei der wechselseitigen Durchdringung

von ULRIKE WINKELMANN

Die Handlung ist schnell erzählt: Erfolgreicher Berliner Chefredakteur einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift, 35, hat eine Langzeitaffäre mit einer Jenaer Akademikerin namens Nicole. Die hat sich von Professor Schulz im nassen Nachthemd fotografieren lassen, und der ansonsten unglaublich abgebrühte Medienmann ist eifersüchtig.

Doch diesem Gefühl gibt er nicht nach. Er bekommt gerade ein viel größeres Problem: Sein Bewusstsein betrügt ihn. Er leidet unter Abwesenheitszuständen, Halluzinationen. Die Umwelt beginnt ihn zu ängstigen, er verliert soziale Kontakte, vegetiert in einem Hotel dahin, schläft mit dem Zimmermädchen. Um sich wieder lebendig zu fühlen, macht er das Schlimmste, was ihm einfällt: Er spannt seinem letzten Freund Lorenzo die Frau aus. Lorenzos tiefes Unglück hilft ihm jedoch nicht weiter, und er stirbt, so legt es der Schluss nahe, bei einem Autounfall.

Ort, Zeit und Personal von Ralph Hammerthalers Roman-Erstling „Alles bestens“ sind mithin überschaubar – insbesondere für solche, die sich sowohl in Berlin als auch in universitären Kreisen ein bisschen auskennen. Und hier fängt dann auch schon der schwer überschaubare Teil an: Hammerthalers Roman versucht nicht weniger, als Niklas Luhmann zu literarisieren. „Alles bestens“ dürfte der erste Roman sein, der den Begriff der Interpenetration zum Leitmotiv macht.

Für alle, die jemals beim Versuch, Systemtheorie zu begreifen, aus der Kurve geflogen sind, war es seit je gut, das „GLU“ im Regal zu haben. Im „Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme“ steht unter „Interpenetration“: „Als Interpenetration wird also ein privilegiertes Verhältnis zweier operational geschlossener Systeme vermutet, die in der Lage sind, in einer zirkulären Beziehung gegenseitiger Störung besonders gezielte und wirkungsvolle Reizaktionen auszuüben.“

Der wichtigste Fall der Interpenetration sei, sagt das „GLU“, die wechselseitige Durchdringung von psychischen und sozialen Systemen – und damit sind wir wieder bei Hammerthaler: Bei der wechselseitigen Durchdringung von Bewusstsein und Umwelt seines Zeitschriftenchefs funktioniert etwas nicht. „Wenn man mich fragt, so würde ich sagen, dass ich an einem Interpenetrationsschaden leide.“ Er ist vom Erfolg als Verleger und als Liebhaber derart gelangweilt, dass ihn in seiner Umwelt nichts mehr stört und nichts mehr reizt, und deshalb versagt ihm sein Bewusstsein den Dienst. Anders kann er sich seine Anfälle von Abwesenheit nicht erklären.

Aber reicht die Erklärung, die er sich selbst gibt? Antwort: nein. Es hilft ihm nicht, dass er sogar Luhmann begriffen hat. Es sieht nur erst einmal so aus. Er kennt die Frauen, er weiß, wann er welche Komplimente machen muss, damit sie sich beschlafen lassen und alles nach seinen Vorstellungen läuft. Liebe ist ein Code, und er beherrscht ihn, im wörtlichen Sinne, spielend. Er weiß, dass die romantische Liebe ausgedient hat, diese Vorstellung aus dem 19. Jahrhundert, dass Liebe und Sex zusammengehen, dass daraus sogar ein Treueversprechen entstehen kann, welches bei manchen Leuten Ehe heißt und auf eine gewisse Dauer angelegt ist. Nein, der Verleger nennt sich „Liebeswähler“, er kennt kein anderes Versprechen als das von Sex selbst, und das ist mitnichten exklusiv und schon gar nicht von Dauer.

So schlau hat er das alles mit Lorenzo beim Bier und mit Blick auf den Bauchnabel der Kellnerin besprochen. Lorenzo weiß alles noch viel besser, er ist der Meisterschüler, der die Codes durchblickt und interpretieren kann, wie alles funktioniert. Lorenzo ist das GLU des Romans, die Stimme der Theorie, er erklärt, warum es so unwahrscheinlich ist, dass zwei Personen zusammenbleiben. Aber übrigens ist Lorenzo glücklich verheiratet, und er kann außerdem erklären, warum Liebe trotz allem auch total und maßlos ist, also in kein System passt. Aber das passt in den Kopf seines eitlen Freundes nicht hinein.

In Wirklichkeit hat der nämlich gar nicht alles begriffen, sondern von allem, was Liebe sein kann, nur, dass sie ein Code ist, und nicht, dass sie einen Menschen auch dauerhaft lebendig halten kann. Tja, könnte man sagen, und weil er so blöd ist, muss er eben sterben, aber weil er so ein Arsch ist, muss er vorher auch Lorenzo und seine Frau noch unglücklich machen.

Aber nein, es geht ja nicht um Moral, es geht ja um den Kampf der Liebeskonzepte: Der Liebeswähler behält insofern Recht, als es ihm dank seiner Meisterschaft im Bedienen des Liebescodes gelingt, die romantische Liebe zu zerstören. Und die Romantiker der Liebe behalten insofern Recht, als der Liebeswähler sich selbst zugrunde richtet, weil er sich so mit sich selbst langweilt.

So gesehen ist „Alles bestens“ enorm dialektisch. Aber war es nötig, dafür die gesamte theoretische Literatur zur Liebe herbeizuzitieren? So recht kann sich der Roman nicht entscheiden, ob er Prosa sein will oder Forschungsliteratur. Zwar bedankt sich Hammerthaler noch vor der Seite 1 bei Sören Kierkegaard, Roland Barthes und Niklas Luhmann, doch trotzdem sucht man im Text unwillkürlich nach den Fußnoten – „Woher hat er den Begriff?“ –. So richtig haut das mit der Interpenetration von Kunst und Wissenschaft in „Alles bestens“ nicht hin.

Ralph Hammerthaler: „Alles bestens“. Rowohlt, Reinbek 2002, 288 Seiten,19,90 €