Was will Scharon?

von URI AVNERY

Nur sehr wenige Leute kennen Ariel Scharon wirklich. Ich glaube, ich gehöre zu ihnen. Seit 50 Jahren verfolge ich seinen Werdegang aus der Nähe. In den 70er- und 80er-Jahren habe ich drei lange biografische Studien über ihn geschrieben, dabei hatte ich lange Gespräche mit ihm. Unkenntnis über den wahren Scharon hat in Israel und in der Welt zu gefährlichen Fehlschlüssen geführt. Ich werde hier versuchen, den wahren Scharon zu beschreiben.

Scharons Herkunft

Ariel Sheinermann, wie er ursprünglich hieß, ist 1928 im Gemeinschaftsdorf Kefar Malal, etwa 20 Kilometer nördlich von Tel-Aviv geboren. Sein Vater, Samuil, ist im Ersten Weltkrieg von Brest-Litowsk nach Tiflis in Georgien geflüchtet, dort traf er die Medizinstudentin Vera und heiratete sie.

Nach der bolschewistischen Revolution war er an geheimen zionistischen Aktivitäten beteiligt, wurde entdeckt und musste wieder flüchten. Vera, die keine Zionistin war, musste mit nach Palästina. Für die in der russischen Kultur aufgewachsene, verwöhnte Frau war das damalige Palästina eine öde Wüste. Ariel wuchs im Schatten einer verbitterten Frau auf, die mit allen Nachbarn zerstritten und von allen Menschen isoliert war.

Einer seiner prägendsten Kindheitseindrücke steht im zeichen dieser Isolation: Er fiel von einem Esel und zog sich eine tiefe Wunde am Kinn zu. Die Krankenkassenklinik war nebenan, aber Vera war mit dem Personal verkracht. Sie nahm das Kind in die Arme, rannte ein paar Kilometer zu einer Ärztin im nächsten Ort. Die heftig blutende Wunde wurde ohne Betäubung zugenäht, und dann eilte Vera, mit Ariel in den Armen, wieder nach Hause. Der Vater, ein Agronom, war meistens abwesend. Von seiner Mutter erbte Ariel die Unnachgiebigkeit und die Kompromisslosigkeit. Und auch die Araberfeindschaft.

Scharon und die Araber

Ariels ganze Kindheit stand unter dem Einfluss der Angst vor den Arabern. Der Boden, auf dem sein Geburtsort Kefar Malal errichtet wurde, war einem arabischen Großgrundbesitzer abgekauft worden. Die arabischen Pächter, die dort seit Generationen gelebt haben, mussten von der (britischen) Polizei vertrieben werden. Das Dorf war damals ziemlich isoliert und von arabischen Dörfern umgeben. 1929 brachen im Land Unruhen aus. Die Araber wehrten sich gegen die zunehmende jüdische Einwanderung. Im Dorf kam das Gerücht auf, Araber aus der nahe gelegen Stadt Kalkilia planten einen Überfall. Vera nahm ihre beiden Babys, Ariel und seine Schwester, und versteckte sich hinter einer Betonwand. Aber die Araber kamen nicht. 25 Jahre später überfiel Major Scharon mit einem Sonderkommando der Armee die Stadt Kalkilia. Vor ein paar Tagen befahl Ministerpräsident Scharon der Armee, die Stadt Kalkilia wieder zu erobern, wobei viel Verheerung angerichtet wurde.

Kurz vor ihrem Tode, als sie schon über 80 war, besuchte Vera ihren Sohn auf seinem Gut, der „Sykomorenfarm“, im Negev. Bei den Blumenbeeten sah sie eine niedrige Mauer mit Bewässerungslöchern: „Gut, dass ihr solche Schießscharten habt“, sagte sie, „da könnt ihr euch verteidigen, wenn die Araber kommen.“

Für Scharon waren und bleiben „die Araber“ der Feind. Er hat sein ganzes Leben lang mit äußerster Brutalität gegen sie gekämpft. Das wird sich nie ändern.

Scharons Wahrheiten

Scharon sagt nicht die Wahrheit. Er lügt aber auch nicht. Frei nach Voltaire nutzt er die Worte, um seine Gedanken zu verhüllen. Wenn er sich auf Krieg vorbereitet, spricht er von Frieden. Er instrumentalisiert die Worte, um seinen Zuhörer zu beruhigen, ihn einzuschläfern, ihn zu verwirren, ihn in die Irre zu führen, ihn zu betrügen, seine Aufmerksamkeit abzulenken. Seine Beziehung zur Wahrheit ist immer problematisch. Vor 42 Jahren schrieb Ben- Gurion über ihn in sein Tagebuch: „Wenn er sich abgewöhnen könnte, nicht die Wahrheit zu sagen, wäre er ein musterhafter militärischer Führer.“ Und zwei Jahre früher, als er ihn zum Obersten ernannte, hatte Ben-Gurion gefragt: „Arik, hast du dir abgewöhnt, die Unwahrheit zu sagen?“

Scharons Schwäche

Seine von der Mutter geerbte Hartnäckigkeit ist beinahe sprichwörtlich. Nicht umsonst nennt man ihn „Bulldozer“. Als Minister war er bei seinen Kollegen dafür bekannt, dass er nie auf einen Vorschlag verzichtete. Wenn er von der Regierung abgelehnt wurde, brachte er ihn in der nächsten und übernächsten Sitzung wieder vor, bis die Gegner bei einer Sitzung in der Minderheit waren.

Seine Einstellungen sind primitiv, aber konsequent. Er hat die Engstirnigkeit des Dorfbewohners, kennt die Welt kaum. Darum hat er die Fähigkeit, weltumfassende Pläne aufzustellen, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun haben. Sie machen zunächst immer einen großen Eindruck auf die Hörer – bis diese Zeit haben, darüber nachzudenken. Scharon ist nicht klug und noch weniger weise. Aber er hat eine Bauernschläue, die ihm zur Hilfe kommt. Er überlistet Leute leicht, besonders jene, die ihn nicht kennen. Seine stärkste Eigenschaft aber ist ein napoleonisches Selbstbewusstsein, das von Gegnern oft als Größenwahn gedeutet wird. Scharon ist aufs tiefste davon überzeugt, dass er allein vom Schicksal erkoren worden sei, Israel zu retten. Daher ist jeder, der ihm dabei in die Quere kommt, bewusst oder unbewusst ein Feind Israels. Für Leute, die seine Überlegenheit nicht anerkennen, hat er nur Verachtung übrig. Das mag der Grund dafür sein, dass er auch in der Armee bei seinen Kollegen extrem unbeliebt war – und daher nie Generalstabschef werden konnte. Auch in der Politik ist er bei Parteikollegen nicht beliebt, sie werden bei der ersten Gelegenheit versuchen, ihn durch Benjamin Netanjahu zu ersetzen.

Scharon als Soldat

Seine Invasion in den Libanon 1982 hatte, zum Beispiel, folgende atemberaubenden Ziele: Einen christlich-maronitischen Diktator einzusetzen, Libanon in ein israelisches Protektorat zu verwandeln, die palästinensische Befreiungsorganisation PLO zu vernichten, die Syrer aus dem Libanon zu verjagen, die Palästinenser aus dem Libanon nach Jordanien zu treiben. Das Ergebnis: Ein schreckliche Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila, der Diktator Baschir Jumail ermordet, der Libanon ein syrisches Protektorat. Die PLO ist jetzt in Palästina etabliert, Israel hat den Libanon nach 28 blutigen Jahren endgültig geräumt.

Scharon und die Welt

Scharons Weltbild entstand in seiner Kindheit, er hat es im Dorf, von seinen Eltern, seiner Umgebung und seiner Schule empfangen. In diesem Bild teilt sich die Menschheit in zwei Teile: Juden und Nichtjuden (Gojim genannt. Gojim, ursprünglich „Völker“, ist ein herabsetzender Ausdruck). Alle Gojim wollen die Juden umbringen, haben es immer gewollt und werden es auch immer wollen. Der Holocaust hat diese Überzeugung nur bestätigt. Einzelne Gojim können Israel helfen, aber man darf sich nicht auf sie verlassen. Wie David Ben-Gurion sagte: „Es ist nicht wichtig, was die Gojim sagen, wichtig ist, was die Juden tun.“

Scharons Zionismus

Beim Begräbnis eines Freundes, der von Arabern getötet worden war, hielt der ehemalige israelische Verteidigungsminister Mosche Dajan eine wegweisende Rede, die sich heute wie eine Handlungsanweisung für Scharon liest: „Wer sind wir, dass wir gegen den Hass der Araber argumentieren müssten? Vor ihren Augen verwandeln wir das Land und die Dörfer in unsere Gehöfte, wo sie und ihre Vorväter gelebt haben. Wir sind eine Generation der Siedler, und ohne Stahlhelm und Kanone können wir keinen Baum pflanzen, kein Haus bauen (…). Das ist das Schicksal unserer Generation: Vorbereitet und bewaffnet, stark und hart zu sein, denn sonst entgleitet das Schwert unserer Faust und unsere Leben werden ausgelöscht.“ Und vor israelischen Jugenlichen betonte Dajan: „Lasst keinen Juden sagen: Dies ist das Ende unserer Arbeit. Lasst niemanden sagen: Wir nähern uns dem Ziel unseres Weges (…) Dieser Prozess währt schon hundert Jahre. Wir haben unseren Teil dazu beigetragen, so gut wir konnten, aber nicht um zu sagen: Das war’s, wir sind fertig“.

Der Zionismus war im Grunde eine Bewegung mit dem Ziel, die Juden aus Europa zu retten und einen Staat zu errichten, in dem sie sich selbst verteidigen können. Die Wahl fiel auf Palästina (auf Hebräisch: Eretz-Israel), weil es eng mit der jüdischen Tradition, Religion und Geschichte verbunden ist. Die Tatsache, dass ein anderes Volk seit vielen Jahrhunderten in diesem Land lebt, wurde so gut wie ignoriert. Wie jede große historische Bewegung hat auch der Zionismus viele Strömungen und Schattierungen, vom humanistischen Zionismus Martin Bubers bis zum rechtsradikalen (um nicht eine andere Bezeichnung zu gebrauchen) Zionismus der Siedler. Scharons Zionismus ist einfach und klar: Das ganze Land gehört den Juden, Araber haben im Grunde hier nichts zu suchen, können höchstens geduldet werden, wenn sie gehorchen. Hauptsache ist, das ganze Land – also alle besetzten Gebiete – mit jüdischen Siedlungen zu bedecken, sodass eine Preisgabe von Gebieten oder gar ein Staat Palästina überhaupt nicht mehr in Frage kommt. Das ist Scharons eigentliche Lebensaufgabe.

Scharon als Minister

Seit seinem Eintritt in die Regierung, 1977 als Landwirtschaftsminister, hat er sich hauptsächlich mit der Errichtung von Siedlungen beschäftigt. Seitdem war er Verteidigungsminister, Minister ohne Portfolio, Minister für Industrie und Handel, Wohnungsminister, Minister für die Infrastruktur und Außenminister – und in allen diesen Ämtern hat er Siedlungen gefördert. Die Idee, er könnte für den Frieden Siedlungen aufgeben, ist nahezu lächerlich. Bei den letzten Wahlen, die mit seinem großen Sieg endeten, lautete seine einzige Parole: „Scharon bringt Frieden und Sicherheit“. Tatsächlich sind das zwei Begriffe, die ihm gleichgültig sind.

Scharon und die Zukunft

Im Vergleich zu dem, was er als seine historische Mission betrachtet – die Ausdehnung des Judenstaates auf das ganze Land und seine Verwurzelung in allen diesen Gebieten – sind Frieden und Sicherheit reiner Luxus. Wenn wir leiden müssen, um ein Groß-Israel für die zukünftigen Generationen sicherzustellen, dann müssen wir eben leiden.

Das hat natürlich wenig mit dem zu tun, was Scharon öffentlich sagt. Aber bei Scharon sollte man nicht hören, was er sagt. Sondern sehen, was er tut.