Eine Wahl mit System

aus Kiew BARBARA OERTEL

Die Angelegenheit ist haarig. „Sie glauben diesen Unsinn doch nicht etwa? Dass wir die Haare unserer Wähler verkaufen wollen“, brüllt Alexander Schigun ins Telefon. Der Leiter des Wahlstabes der Partei „Ukrainski Narodni Ruch“ (Ukrainische Volksbewegung, UNR) redet sich in Rage. „Wollen sie diese Banditen wählen, oder ehrliche, verantwortungsbewusste Menschen? Dann wissen Sie ja, wie Sie entscheiden müssen“, sagt er und knallt den Hörer auf die Gabel. „Jeden Tag neue Absurditäten. Stellen Sie sich vor: Gestern wurde unsere Partei in Flugblättern bezichtigt, den Wählern Organe entnehmen und dann verkaufen zu wollen“, stöhnt er im Quartier der rechtliberalen „Ruch“ im Zentrum der Hauptstadt Kiev.

Am kommenden Sonntag finden die Wahlen zum Parlament, der Verchovna Rada, statt. 33 Parteien und Blöcke – die zum Teil aus bis zu zehn Parteien bestehen – stehen zur Wahl. Um ins Parlament zu kommen, müssen sie auf vier Prozent der Stimmen bekommen.

Was auf den ersten Blick wie eine erstaunliche Parteienvielfalt anmutet, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als dreiste Mogelpackung. Viele der Aspiranten, wie die Oligarchenpartei „Vereinigte Sozialdemokratische Partei“, die Grüne Partei und die Partei „Frauen für die Zukunft“ segeln in Wahrheit unter der Flagge der Staatsmacht. Die verkörpert Präsident Leonid Kutschma. Mit dem Block „Za edinu Ukrainu“ (Für eine einige Ukraine) unter der Ägide des Chefs der Präsidialverwaltung, Wladimir Litvin, schickt Kutschma sogar eine eigene Gruppierung ins Rennen.

Für Kutschma geht es um nichts Geringeres als die Erhaltung der eigenen Macht und der seiner präsidentenhörigen, korrupten Bürokratie. Im Kopf hat er die Präsidentenwahlen in zwei Jahren, für die es gilt, geeignete Kandidaten und damit seinen Nachfolger in Stellung zu bringen. Böse Zungen behaupten sogar, der Präsident führe noch ganz anderes im Schilde: Die Ergebnisse des Referendums vom April 2000, das seine Kompetenzen noch weiter vergrößert, endlich vom Parlament absegnen zu lassen und sich per Verfassungsänderung eine dritte Amtszeit zu besorgen.

Eigentlich könnte die Ruch, die dem rechtszentristischen Block „Nascha Ukraina“ (Unsere Ukraine) des ehemaligen Premierministers Viktor Juschenko angehört, ganz beruhigt sein. Laut letzten Umfragen liegt „Unsere Ukraine“ bei rund 28 Prozent der Stimmen und würde damit erstmals die Kommunisten auf den zweiten Platz verweisen.

Der hohe Zuspruch ist eindeutig der Person Juschenkos zu verdanken. Die Regierung des 48-jährigen Bankers, der im Westen gern als „liberaler Reformer“ etikettiert wird, stürzte im vergangenen April über ein Misstrauensvotum, das Kommunisten und Oligarchenclans initiiert hatten. Juschenko hat in seiner nur 19-monatigen Amtszeit vor allem wirtschaftspolitisch einiges in Bewegung gebracht: Rentenschulden wurden getilgt, Löhne pünktlich gezahlt, ein ausgeglichener Haushalt verbunden mit einem deutlichen Wirtschaftswachstum erreicht. Besonders die plötzliche gute Zahlungsmoral bei Renten ist vielen alten Menschen, die mit umgerechnet 36 Euro im Monat ohnehin am Existenzminimum vegetieren, im Gedächtnis haften geblieben.

Doch vor einem Wahlerfolg Juschenkos und seiner Mitstreiter steht das Wahlsystem. Nur die Hälfte der 450 Parlamentssitze wird über Parteilisten vergeben. Die verbleibenden 225 Mandate besetzen die Sieger der Direktwahl in den Wahlkreisen. Da haben die Vertreter der Präsidentenparteien eindeutig die Nase vorn. Nach Schätzungen von Experten könnte Kutschmas Garde „Für eine einige Ukraine“, die in Umfragen bei bei sieben bis acht Prozent liegt, hier bis zu 150 Mandate einfahren.

Das Zauberwort zur Lösung dieses ukrainischen Rätsels heißt „Adminressursy“. Diese so genannten administrativen Finanzen werden in Wahlkampfzeiten von den Chefs der Gebiete und Regionen, die allesamt von Kutschma ernannt sind, gnadenlos zugunsten der dem Staat genehmen Kandidaten eingesetzt. Das reicht von flächendeckender Plakatierung an Gebäuden, Taxis und Bussen, über massive Präsenz in den staatlichen und von Oligarchen kontrollierten Medien bis hin zu perfiden Behinderungen oppositioneller Kandidaten (siehe Kasten). Wo die Wähler immer noch zweifeln, wird, gemäß alter sowjetischer Tradition, mit der kostenlosen Verteilung von Lebensmitteln, wie Wurst und Zucker, nachgeholfen.

Wladimir Polochailo, Politologe und Chefredakteur der angesehenen Zeitschrift Politischna Dumka (Politischer Gedanke) hat keine Illusionen. „Von den Bedingungen für einen demokratischen Wahlprozess ist in der Ukraine nur eine erfüllt: Dass die Wahlen termingerecht stattfinden. Die Wahlen werden absolut gefälscht“, sagt er. „Das Schlimme dabei ist, dass die Hälfte der Wähler um diese Fälschungen weiß. Doch die Menschen nehmen das wie Korruption oder Schattenwirtschaft als Norm, als Gegebenheit hin.“

Dere Chef der Sozialisten, Alexander Moros, weiß nur zu gut, was der Kampf mit ungleichen Mitteln bedeutet. Nicht zufällig haben er und seine Truppe unter dem Druck der Staatsmacht besonders zu leiden. Die Sozialisten sind eine der wenigen Kräfte, die sich überhaupt als politische Opposition zu profilieren versuchen. Zudem ist Moros, der im Herbst 2000 Tonbänder veröffentlichte, die Kutschma verdächtig machen, in den Mord an dem regimekritischen Journalisten Georgij Gongadse im Herbst 2000 verwickelt zu sein, ein Intimfeind des Präsidenten.

„Hier herrscht eine kriminelle Diktatur, die mit einem demokratischen Gewand maskiert ist“, sagt Moros. „Menschen werden wegen ihrer politischen Überzeugung verfolgt.“ Moros will auf eine Reform des politischen Systems hinarbeiten: „Es darf nicht nicht sein, dass soviel Macht in einer Hand konzentriert ist, wie es jetzt hier der Fall ist. Parlament und Regierung müssen endlich in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen.“

Die Erkenntnis, die politischen Strukturen grundlegend zu ändern, um präsidialem Machtmissbrauch einen Riegel vorzuschieben, hat sich mittlerweile auch andernorts durchgesetzt. Der Physikprofessor und Ruch-Abgeordnete Igor Juchnovskij, Demokrat der ersten Stunde, Vorkämpfer für die Unabhängigkeit des Landes und einer der Väter der Verfassung von 1996 gesteht zu, dem Präsidenten in der Verfassung zu viel Macht eingeräumt zu haben. „Wir hätten damals strategisch weiter blicken sollen. Jetzt ernten wir die Früchte dieser mangelnden Akkuratesse“, sagt er. Doch strafrechtlich belangt will Juchnovskij den Staatschef keinesfalls wissen. Er hat ein Gesetz, nach Jelzin’schem Vorbild in Russland, mit ausgearbeitet, das den Präsidenten vor Strafverfolgung schützt. „Ein solches Gesetz ist normal in einem Land, das bis jetzt nur zwei Präsidenten hatte. Das Amt des Präsidenten muss geschützt werden“.

So kann Präsident Leonid Kutschma, dessen Rolle bei der Ermordung des Journalisten Gongadse bis heute nicht geklärt ist, weiter schalten und walten. Er wird auch noch von ganz anderer Stelle unterstützt. In der vergangenen Woche schaltete sich Russland, dessen führende Oligarchen große Teile des ukrainischen Energiesektors unter Kontrolle haben, massiv in den Wahlkampf ein. Moskaus Botschafter in Kiev, Viktor Tschernomyrdin beschuldigte Viktor Juschenko, russlandfeindliche Elemente in seiner Umgebung zu dulden. Das könnte sich negativ auf die Beziehungen beider Länder auswirken. Der Chef der Kremladminstration, Alexander Woloschin brachte unverhohlen seine Unterstützung für den Block „Für eine einige Ukraine“ zum Ausdruck.

Dieser Tage besucht Präsident Wladimir Putin Kiew. Ob er außer Kutschma und seinen Vassallen auch andere Politiker, wie zum Beispiel Viktor Juschenko treffen wird, ist noch unklar. Juschenko hätte nichts gegen ein Treffen mit Putin, jedoch unter einer Bedingung: „Nur in einem Kontext, in dem es darum geht, freie und faire Wahlen sicherzustellen“, sagt er. „Eine andere Hilfe aus Russland brauchen die ukrainischen Wähler nicht.“