Das Spiel der Sonne auf den Gesichtern

Ein silberfarbenes Mountainbike fährt durch chinesisch-italienischen Neorealismus: Wang Xiaoshuais Spielfilm „Beijing Bicycle“ legt viel Wert auf poetische Bilder und auf städtebauliche und gesellschaftliche Kontraste

Im letzten Jahr gewann der chinesische Film „Beijing Bicycle“ einen Silbernen Bären bei den Berliner Filmfestspielen. Nun kommt Wang Xiaoshuais an Vittorio de Sicas neorealistischen Klassiker „Fahrraddiebe“ angelehnter Film in die Kinos. Während man vielen bekannten chinesischen Filmemachern vorwirft, ein Gourmetkino zu machen, das die gewaltigen Umbrüche im Lande ignoriert, könnte man über „Beijing Bicycle“ sagen, dass der Film Gourmetkino ist, mit schönem Sonnenlichtspiel auf den Gesichtern seiner Helden zuweilen und ohne jeden Dreck auf den Straßen oder Smog in der Luft, das sich aber zugleich den gesellschaftlichen Widersprüchen stellt. Spaß muss sein!

Vielleicht gibt es derlei ja auch nicht in der chinesischen Hauptstadt, die berühmt ist für ihre Fahrradmassen, wobei noch erwähnt werden sollte, dass es in Kuba fast ausschließlich chinesische Fahrräder gibt.

„Beijing Bicycle“ ist ein wortkarger, schöner Film mit einer angenehmen Jazzmusikuntermalung, wie sie häufig in amerikanischen Filmen der Achtzigerjahre verwandt wurde. „Vor der Zeit, als sich China öffnete, war der Status einer Familie daran abzulesen, ob man die ‚vier Großen‘ besaß: eine Uhr, eine Nähmaschine, ein Radio und ein Rad. Heute sind die ‚vier Großen‘ nicht mehr dieselben“, bemerkt Regisseur Wang Xiaoshuai. Und auch die Fahrräder sind anders. Halt moderner.

Guei (Cui Lin), ein 16 Jahre alter Junge, der gerade vom Lande in die große Stadt gekommen ist – mit großen Erwartungen und allem Drum und Dran, wie die ganzen Bonner und Münchner meinetwegen, die es nach Berlin verschlug, findet Arbeit bei einem Kurierdienst. Die Einstellung ähnelt einer Musterung. Die neuen Kuriere sagen ihren Namen und woher sie kommen, werden neu eingekleidet, müssen Peking auswendig lernen; ihnen wird eingeschärft, dass sie sich als Repräsentanten und Imageträger ihrer großartigen Firma gut zu betragen haben, sie bekommen ein neues, topmodernes silberfarbenes Mountainbike und zunächst 20 Prozent ihrer Einnahmen, von denen sie ihre Räder allmählich abstottern. Wenn es ihnen dann gehört, bekommen sie die Hälfte.

Glücklich über seinen neuen Job radelt Guei durch die Stadt und pflegt sein Fahrrad sorgfältig. Er fährt nicht ganz so actionmäßig wie Fahrradkuriere hierzulande. Nach der Arbeit schaut er schönen Frauen hinterher, die als vermeintliche Städterinnen in einer anderen Liga spielen.

Wang Xiaoshuai hat großen Wert auf poetische Bilder und städtebauliche und gesellschaftliche Kontraste gelegt. Hier die beengten Wohnverhältnisse der Ländler, die in die Stadt kamen, da die Reichen; hier moderne Bauten, große Straßen, schicke Spielhallen, da Gassen, in denen man sich verliert, Höfe, in denen sich alte Menschen sonnen, traditionell gebaute Dächer. Der Regisseur sagt, er habe Schwierigkeiten gehabt, den „malerischen Aspekt“ der Metropole zu finden; „es gibt immer weniger Gassen“, moderne Bau- und Abrisswut fressen das Alte auf.

Ein Monat vergeht, und Guei ist fast schon stolzer Besitzer des schönen Fahrrads. Da wird es ihm gestohlen. Er wird entlassen. Er will das Fahrrad wiederfinden, denn dann würde er wieder eingestellt. Wunder, oh Wunder, er findet das Rad, das er mit ein paar Kratzern markiert hat, nach verzweifeltem Suchen. Der junge Jian (Li Bin) hatte es auf einem Flohmarkt gekauft und gewann mit dem schönen Rad das Herz eines hübschen Mädchens. Diese Konfliktlage muss nun gelöst werden. Eine mit Jian assoziierte Jugendbande, wilde Mountainbiker, deren Auftritte manchmal an Western erinnern, spielt auch eine wichtige Rolle. „Beijing Bicycle“ ist ein wortkarger, andeutungsweise langsamer Film mit schönen Bildern.

DETLEF KUHLBRODT

„Beijing Bicycle“. Buch und Regie: Wang Xiaoshuai. Mit Cui Lin, Li Bin, Zhou Xun, Gao Yuanyuan u. a., China 2001, 113 Min.