Der Inzest ist eine Schnecke

Defensiv: Dimiter Gotscheff inszeniert Antonin Artauds Gruselgeschichte „Die Cenci“ in Frankfurt – eher als Kommentar über den Theoretiker des Theaters der Grausamkeit denn als Stück von ihm

Ein Essay über die Frage, ob und wieman Artaud heute spielen kann

von FLORIAN MALZACHER

Ein Grummeln im Foyer, ein tiefer Ton in der Magengrube, undefiniert und satt im ganzen Raum. Einstimmung: Es geht hinab. Hinab ins Untergeschoss zur kleineren Bühne des Frankfurter Schauspiels, hinab in die Theatergeschichte zu Antonin Artauds „Cenci“ von 1935 – wenig bekannt und doch ein Klassiker. Nicht als Stück, sondern als Position: Artauds einmaliger Versuch einer dramatischen Umsetzung seines „Theaters der Grausamkeit“. Praxisausflug eines Theoretikers, der sich für einen Praktiker hielt und damit viele Missverständnisse zeitigte. Und der vielleicht gerade wegen dieser Ambivalenz einer der einflussreichsten und treibendsten Theaterkünstler des 20. Jahrhunderts war.

Es war seine Vision von einer Kunst mit der heilenden und zerstörerischen Kraft des Mythos, die die Performance- und experimentelle Theaterszene seither beeinflusst. Von Peter Brook bis Heiner Müller haben sich auch die Neudenker und -macher des Sprechtheaters auf ihn bezogen. Gespielt jedoch wurden und werden seine wenigen Bühnentexte so gut wie nie. Und von dem „Zugeständnis, dass das theatralische Spiel wie die Pest eine Raserei ist und dass es ansteckend wirkt“, ist unser Verständnis weiter entfernt denn je.

Eine seltene Artaud-Inszenierung weckt also kaum zu erfüllende Erwartungen, mehr noch, fast unvermeidlich zu erfüllende Befürchtungen: Man kommt als Zuschauer, um einem Scheitern beizuwohnen, bestenfalls einem leidlich ehrenhaften Scheitern.

Die Bühne des kleinen Hauses, von den roten Klinkern des Zuschauerraumes gerahmt, steht leer. Mit nackten, schwarzen Wänden, die Leitungen sichtbar, der Lastenaufzug, die Türen. Der Boden schief nach vorn geneigt, ein Tisch, quer wie beim heiligen Abendmahl, der Blick durch große Spalten in die Tiefen frei. Wo Cenci seine Leichen im Keller hat, kriechen untot lemurenhafte Nackte umher, greifen zuweilen mit den Händen nach den Rändern, steigen hervor – das größte Bildpathos, das sich Regisseur Dimiter Gotscheff gönnt.

„Die Cenci“ waren für Artaud zwar „noch nicht das Theater der Grausamkeit, aber sie bereiten es vor“. Die Handlung ist an Shelley und Stendhal und von diesen an die reale Geschichte angelehnt: das blutige Ende einer Renaissance-Familie, deren Vater aus Berechnung und Lust seine patriarchale Macht zum Mord missbraucht, seine Tochter vergewaltigt, bis diese in ihrer Not den Vater selbst umbringt und daraufhin gefoltert und hingerichtet wird. Eine Gruselgeschichte, die vom Plot für Shakespeare wie fürs Boulevard geeignet wäre. Doch die Aufmerksamkeit liegt nicht auf der Handlung, nicht auf dem Text, auf Dialogen. Artauds Ziel war es, „die Unterwerfung des Theaters unter den Text zu durchbrechen und den Begriff einer Art von Sprache zwischen Gebärde und Denken wieder zu finden“.

Auch in der Frankfurter Inszenierung sind die Figuren nicht nur stilisiert, sondern formalisiert, ihre Sprache jeder Logik der Psychologie enthoben, am deutlichsten bei Jörg Pose als Cenci. Mit schnoddriger Gelassenheit überpräzis artikulierend spricht er seine menschenverachtenden Sätze im rhythmischen Leierton – ein abgenudeltes Tonband. Verlegt mit klarer Haltung die Komplexität der Rolle in eine Komplexität der Sprechweise. Scheint von außen auf die eigene Rede zu schauen wie auf etwas Fremdes, scheint sie im Sprechen selbst zu kommentieren.

Dazu bewegt sich die restliche Familie meist haltungssicher auf schmalem Grat – nicht nur des abgründigen Bühnenbildes (Florian Parbs). Und zwischen allen schlurft filzbeschuht Wolfram Koch als Diener umher – ein Textmädchen für alles, vor allem mit Wiederholungspassagen Cencis versorgt, die Gotscheff wie einiges andere an Text hinzugefügt hat.

Gotscheffs immer reflektierende, anspielungsreiche und betont Fehler vermeidende Inszenierung scheut jeden Ausbruch, alles, was landläufig mit Artaud in Verbindung gebracht wird. Kein Blut, kein Schrei. Auch Körperflüssigkeiten nur als Zitat. Zuweilen durchbricht der Regisseur den Formalismus mit Humor oder Momenten großer Emotionalität: eine bedrohliche Szene der Nähe vor dem Inzest, das Bild der Schnecken als Beschmutzung, zart und brutal vom Vater auf die Haut der Tochter (Lena Steiff) gesetzt.

Doch jenseits solcher Momente sind die Frankfurter Cenci vor allem Kommentar. Ein Essay über die Frage, ob und wie man Artaud heute spielen kann, überhaupt spielen kann.

Man kann. Das zeigt der Abend, und wenig ist das nicht. Doch defensiv auf unentschieden zu spielen, wo man den Sieg nicht für möglich hält, mag lauter sein. Bringt aber nicht einmal die halbe Punktzahl.

Zu den Rätseln dieser Tapferkeit, die zum Mut nicht wird, gehört der außer anfangs im Foyer betont zögerliche Einsatz des Klangmaterials des Wiener Künstlers Franz Pomassel. Warum einen Klangkunstlöwen als flügelgestutzten Kanarienvogel singen lassen? Dabei hätte sich hier wie an anderen Stellen der Inszenierung die Möglichkeit aufgetan, eine Grenze zu überschreiten. Die Grenze von einem Stück über Artaud zu einem Stück von Artaud.