„Ein Bild von Beengung“

Ein Kino der Blicke und des beredten Schweigens: In „Lovely Rita“, ihrem ersten Langfilm, zeigt die österreichische Regisseurin Jessica Hausner eine kleinbürgerliche Welt aus der Sicht eines Teenagers

Interview RETO BAUMANN

taz: Frau Hausner, „Lovely Rita“ heißt ein Song auf dem Beatles-Album „Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club“. Auch Sie erzählen eine Geschichte von Vereinsamung.

Jessica Hausner: Der Filmtitel hat mit dem Beatles-Stück zu tun, insofern der Bus-Chauffeur in einer Szene Rita in Anlehnung an das Lied scherzhalber „Lovely Rita“ nennt. Gleichzeitig steckt im Titel eine Ironie, weil ein Mädchen, das man gemeinhin als „lovely“ bezeichnet, bestimmt nicht erst Nachbarjungen und Busfahrer verführt und dann seine Eltern umbringt.

Das Ende des Films ist nicht unbedingt absehbar, jedenfalls steht der Leidensdruck kaum im Verhältnis zur Radikalität. Und doch ermöglicht die Grenzüberschreitung einen anderen Blick, gerade wenn Rita in die Kamera schaut und uns provokant den Ball zuspielt, als würde sie sagen: „Na, was machst du jetzt damit?“ Soll das Publikum den Film vom Ende her neu lesen müssen?

Erst mal ist die enorme Explosion am Ende der Wirklichkeit geschuldet. Ich habe – und das war der Anstoß zum Film – den Fall eines Mädchens recherchiert, das seine Eltern umgebracht hat. Spannend an der Geschichte finde ich die Ambivalenz, weil sie einerseits zeigt, dass manche Dinge im Leben logisch sind, es andererseits das Moment des Zufalls, der Willkür gibt. Obwohl gewisse Gründe die Tat zum Teil erklären können, bleibt ein Rest von Nichtbegreifen. Es gibt vermutlich ganz viele ähnliche Biografien von Jugendlichen, die ihre Eltern aber nicht umbringen. Dies ist mein Motor. Weil ich glaube, dass sich hierin großes Drama abspielt: Man ist fähig zur Reflexion und doch immer wieder damit konfrontiert, dass die Dinge einfach geschehen.

Das klingt fatalistisch. Was mit dem Film korrespondiert, wenn ich daran denke, wie sehr Rita die väterliche Zwanghaftigkeit internalisiert hat. Als gäbe es kein Loskommen.

Diese Anschauung scheint mir elementar. Ich glaube schon, dass es letztlich kein Entrinnen gibt. Nicht vor dem Tod. Das ist die tiefere Erzählung des Films. Deshalb endet der Film so tragisch. Es gibt im Leben kleine Momente von Glück, mehr nicht. Insofern kratze ich an einem Tabu: Denn das Sprechen über Sterben macht Angst.

Das Klima ist einigen heiteren Momenten zum Trotz durchfroren. Sie sezieren das Milieu mit kühlem, distanzierten Blick, entwerfen fast ein Sittenbild. Um so mehr, als auf eine Psychologisierung weitgehend verzichtet wird.

Tatsächlich funktioniert der Film nicht über eine Identifikation mit Rita. Ich erzählte nicht die Geschichte eines speziellen Mädchens, das seine Eltern umbringt, vielmehr zeichne ich ein allgemeineres Bild von Beengung. Und das in einem Kleinbürgermilieu, in dem die Menschen vereinsamen, weil sie anscheinend verlernt haben zu sagen: „Ich möchte, ich wünsche, ich denke, ich bin.“ Sie funktionieren einfach, auch Rita. Da ist ein Alleinsein zu spüren und die Sehnsucht, dieses zu überkommen. Ich glaube, dass diese Sehnsucht größer ist als ihre Erfüllung im Laufe des Lebens.

Rita ist eine ziemlich amoralische Figur. Am Ende isst sie entspannt eine Leberkässemmel.

Mir gefällt das Robuste an Rita. Letztlich war es so, dass ich bewusst Szenen weggelassen habe, durch die man mehr von ihrer Psyche mitbekommen hätte. Wir haben beispielsweise eine Szene gedreht, in der sie in einer Bahnhofshalle herumgeistert, in einer Art Absence. Ich habe sie rausgeschnitten, weil ich nicht plötzlich sehr konkret von diesem einen Mädchen erzählen wollte. Der Film sollte von Anfang bis Ende in einem Schwebezustand bleiben. Wenn man so will, ist für mich die Erklärung der Feind der Klarheit.

Es gibt in „Lovely Rita“ eine seltsame Mischung von Zeiten: Da ist das 70er-Jahre-Wohnambiente, andere Ausstattungsstücke erinnern an die 80er, und musikalisch steht Opus' „Life is live“ von 1985 Mobys „Why Does My Heart Feel So Bad“ von 1999 gegenüber. Wollten Sie damit den Aspekt von Zeitlosigkeit betonen oder eher Unberechenbarkeit suggerieren?

Beides. Ich wollte keine homogene Welt zeigen. Die Verunsicherung ist beabsichtigt. Bei der Musik ist es so, dass sie oft von den großen Träumen handelt, den schönen Gefühlen. Die Wirklichkeit aber ist ein abgetragener Hausschlappen. Dieser Kontrast ist für mich Musik. Das finde ich spannend. Auch mit filmsprachlichen Mitteln will ich dem Zuschauer leise den Teppich unter den Füßen wegziehen. So sehen beispielsweise die Zooms komisch aus, leicht hässlich. Die sind bewusst so schlecht gemacht, mit Rucklern drin.

Die Form soll die Brüchigkeit der Figuren wiederspiegeln.

Durchaus. Der ganze Film sollte eine Art von Realismus ausstrahlen, zugleich aber Zufälligkeit und Banalität. Deshalb haben wir auf Video gedreht und mit Laiendarstellern gearbeitet. Die sind weniger geformt. Bei ihnen zeigt sich sehr deutlich, wie Menschen als Teil eines Zahnradwerks funktionieren, und mit Laien lässt sich besser eine Art von Beliebigkeit und Austauschbarkeit herstellen.

Beim Betrachten hatte ich das Gefühl, es wird gleichzeitig von der Peripherie und aus der Mitte heraus erzählt.

Ich sehe gerne Filme, die mir das Gefühl geben, ich werde in einem wesentlichen Teil von mir selbst bewegt. Es ist schön, wenn eine Sache, ein Milieu authentisch sind, aber die Dinge sollten eine größere Bedeutung haben. Das ist der Grund, weshalb ich Filme mache. Ich will nicht nur am Rand vorbeierzählen, und am Schluss ist eitel Wonne. Es geht mir darum, den schönen Vorhang beiseite zu schieben.

Das erinnert an Michael Haneke: Nie benutzen Sie Ästhetik zur Beruhigung der Sachlage.

Ich habe nicht das Gefühl, eine Haneke-Schülerin zu sein, wenngleich ich bei „Funny Games“ eine Art Hospitanz gemacht habe und natürlich eine Verwandtschaft zu Haneke empfinde. Seine Filme haben mich – wie die von Ulrich Seidl – stets erstaunt. Gerade weil sie die Wirklichkeit beschreiben, ohne zu beschönigen. Bei Hanekes Filmen hatte ich immer das Gefühl, sie hätten etwas mit mir zu tun.

Auf der Homepage von Coop 99, der Produktionsfirma von Ihnen, Barbara Albert, Antonin Svoboda und Martin Gschlacht, ist eine Art Dogma formuliert. Die Geschichten sollen eingebettet sein in eine Realität, die mit Ihnen etwas zu tun hat, und Sie wollen Stellung beziehen. Nun ist „Lovely Rita“ aber ein Film ohne eindeutige Stellungnahme.

Das ist genau der Punkt. Es ist eine waghalsiges Unterfangen, von einem Mord zu erzählen und sich dabei einem Urteil zu entziehen. Die Wertesysteme einer Gesellschaft dienen ja auch dazu, den Einzelnen aufs richtige Gleis zu setzen und kontrollierbar zu machen. Wenn Rita nun ohne nachvollziehbaren Grund diese Tat vollbringt, hat das mit Anarchie zu tun. Wenn man so will, mache ich eine anarchistische Stellungnahme.

„Lovely Rita“, Regie: Jessica Hausner. Mit Barbara Osika, Peter Fiala u. a., Österreich/Deutschland 2001, 80 Min.