Millionen gegen Le Pen

In ganz Frankreich gehen am 1. Mai Menschen gegen den Rechtsextremismus und für den sozialen Fortschritt auf die Straßen. Mit fantasievollen Transparenten bringen sie ihre Anliegen vor

aus Paris DOROTHEA HAHN

Dieser 1. Mai wird in die Geschichte eingehen. Als der Tag, an dem Frankreich aus einem Alptraum erwacht ist. An dem der Widerstand gegen den Rechtsextremismus neue Dimensionen erreicht hat. An dem die Republik gegen Le Pen gesiegt hat. Vier Tage vor der Stichwahl. Auf der Straße.

Zwei Millionen Demonstranten sind auf der Straße. Vielleicht sogar drei. Auf jeden Fall mehr, viel mehr, als selbst Optimisten erwartet haben. Manche denken an 95, andere an 68. Unterwegs ist das Volk der Linken. Einig in dem Willen, das Land von dem Mann zu befreien, der als zweitstärkster Politiker aus dem ersten Wahlgang hervorgegangen ist. Einig auch in der Absicht, am kommenden Sonntag den konservativen Jacques Chirac zu wählen. Mangels Alternative erscheint Chirac als einzige Möglichkeit, die Republik zu retten. Kurzfristig zumindest. „Wer Le Pen wählt, wählt zum letzten Mal“, warnen viele. Und, ganz anders als im Mai 68, als das Gegenteil en vogue war: „Enthaltung ist eine Idiotenfalle.“

Die großen Gewerkschaften, die einen gemeinsamen Aufruf verfasst haben, führen die Demonstrationen an. „Für den sozialen Fortschritt, gegen den Rechtsextremismus“ steht auf ihren Banderolen. Dahinter ziehen so viele Demonstranten wie an keinem 1. Mai seit Menschengedenken durch hunderte von französischen Orten. Junge und Alte. Arbeiter und Angestellte. Weiße und Schwarze. Gewerkschafter, Bürgerbewegte und Politiker. Einzelpersonen und viele große Familien. Erstmals sind auch Spitzenpolitiker aller linken Regierungsparteien dabei, sogar ein paar Minister haben die Weisung ihres Regierungschefs Jospin gebrochen, am 1. Mai zu Hause zu bleiben. An jenen Orten, wo es nicht für eine Demonstration reicht, organisieren die Leute „Republikanische Bankette“, Konzerte und Diskussionen. Im ganzen Land sind es tausende.

An diesem 1. Mai erobert das Volk der Linken seine Symbole zurück. Es will die Nationalheldin Jeanne d’Arc und die Trikolore den Rechtsextremen entreißen. „Rühr meine Jeanne d’Arc nicht an“ steht auf Transparenten. Drei kleine Mariannenfiguren in den Farben Blau-Weiß-Rot schmücken die Revers. Teenager aller Hautfarben hüllen sich in überdimensionale Trikoloren, auf denen geschrieben steht: „La France, c’est nous“ (Frankreich sind wir). Linksradikale schmettern mit erhobener Faust die Nationalhymne „La Marseillaise“. Natürlich ist auch der Dreisatz der Revolution „Liberté, égalité, fraternité“ vertreten. Und alle lassen jenes Frankreich hochleben, das Le Pen zerschlagen will. Wie 1998 nach dem französischen Erfolg in der Fußballweltmeisterschaft rufen sie: „Vive la France – black, blanc, beur“ (Es lebe das schwarz-weiß-arabische Frankreich).

Es ist auch eine politische Rückeroberung. „Gut, dass die Jungen uns aufgerüttelt haben“, sagen die Älteren: „Wir haben zu lange gedämmert.“ Viele erkennen jetzt, da es „beinahe zu spät ist“, dass sie zu lange lethargisch waren. Dass sie in den Jahren der rot-rosa-grünen Regierung zu viel haben geschehen lassen, ohne ihre Rechte zu verteidigen. Jetzt tauchen alte Forderungen wieder auf. Viele wollen sich nicht mehr mit den Kompromissen abfinden, die ihnen ihre Regierung als historische Fatalität angeboten hat. Auf der zentralen Pariser Demonstration, die wegen Überfüllung nicht nur auf einer, sondern auf drei verschiedenen Routen verläuft, verlangen sie eine Revision der 35-Stunden-Woche, ein Ende der Massenentlassungen und wollen, dass die Flut von Minijobs und befristeten Verträgen und die Lohnrückgängen endlich aufhören. Manche wollen die Privatisierungen rückgängig machen. Viele verteidigen eine Lebensarbeitszeit von 37,5 Jahren und alle die öffentlichen Dienste und den gleichen Zugang aller Bürger dazu.

„Wir brauchen eine linke Linke“ ist auf manchen Transparenten zu lesen. „Die größte Unsicherheit ist der Kapitalismus“ steht auf anderen in Anlehnung an des Thema der inneren Sicherheit, das die Hauptkandidaten in diesem Wahlkampf in den Vordergrund gestellt haben. Auch: „Nur die Befreiung vom Liberalismus bringt uns Sicherheit.“

Längs der Demonstrationsrouten in Paris haben Anwohner ihre Fenster mit Plakaten beklebt. „NON“ steht auf vielen geschrieben und die viertelstündlich aktualisierte Zahl der Demonstranten. Vielfach auch einfacher Dank: „Merci, dass ihr gekommen seid.“

Im Gewühl fallen manche in Ohnmacht. Andere kämpfen gegen Tränen. Viele lassen ihre Dichter und Helden hochleben. Descartes wird zitiert: „Ich denke, also bin ich“, und der von Klaus Barbie ermordete Résistancekämpfer Jean Moulin: „Ich hätte nie gedacht, wie einfach es ist, seine Pflicht in einer historischen Notlage zu erkennen.“ Jemand hat die toten Präsidenten de Gaulle und Mitterand angerufen: „Hilfe, hier sind alle verrückt geworden.“ Viele tanzen. Vor allem die ganz Jungen, die noch nicht wählen dürfen. Sie haben Laster mit Lautsprechertürmen beladen, aus denen Technomusik donnert. Techno ist eine jener „unfranzösischen“ Kulturgüter, denen Le Pen die Unterstützung streichen will.

Alle wissen, dass ihr Ziel noch lange nicht erreicht ist. Dass ihnen mit Chirac ein beinhart rechter Präsident bevorsteht. „Wählt Chirac gegen Chirac“ empfiehlt dialektisch ein alter Mann. Am Sonntagabend, sobald das Wahlergebnis veröffentlicht ist, will das linke republikanische Frankreich weiter demonstrieren, in Paris und im Rest des Landes.