Pärchenrituale im Wartesaal

Vieldeutiges Herzflattern: In Jaan Tättes Stück „Die Brücke“ ringen sieben Menschen um das Glück. Die Inszenierung am Schauspiel Stuttgart fügt diesem Knäuel geschickt noch ein paar Fäden hinzu

von SABINE LEUCHT

Die Liebe ist keine Himmelsmacht. Sie will erarbeitet sein, mittels Sprache und Sprechen dem Schicksal abgetrotzt. Liebe kommt vom „Ich liebe dich“-Sagen, und das ist weder so einfach noch so platt, wie es klingt.

Auf der Brücke in der oberen Hälfte von Jörg Kiefels horizontal zweigeteilter Bühne redet sich Leele schon mal ein. Ihr Monolog dauert etwa eine Stunde, und dass die einem nicht lang wird, liegt an der Frische, mit der Katja Uffelmann die unaufgebrezelte Alltagsschönheit ihrer Figur zu etwas Besonderem macht. Nicht die behauptete Schönheit – das verbale Hervorzerren von schönen Ohren und Zehen wie im BMW-Werbespot – sondern die Schönheit des Sprechens selbst muss es sein, die schließlich auch Sten (Arnd Klawitter) betört, der nach langem Schweigen die drei erlösenden Worte spricht. Und alles könnte nun gut sein, wäre das Mädchen nicht tödlich erkrankt.

Hier wird die Geschichte kompliziert, denn die deutschsprachige Erstaufführung von Jaan Tättes „Die Brücke“ am Staatsschauspiel Stuttgart macht einem das nicht wirklich klar: Das Herzflattern, von dem Leele mehrfach spricht, kann schließlich vieles meinen. Und auch dass die sieben seltsamen Vögel, die im zweiten Akt in undurchschaubaren Pärchenritualen gefangen sind, bereits ums Leben gekommen sind, erschließt sich erst vom Ende her. Wenn man auch ahnt, dass in diesem fenster- wie gesichtslosen Wartesaal das Glück nicht wohnt: Wie eingemauert in den Bauch der Brücke glaubt man Sisyphos in siebenfacher Gestalt zu sehen. Vier Männer und drei Frauen kämpfen um eine neue Chance und kennen dafür bloß jenes Mittel, das einst ihr Verhängnis war: Mit den anderen immer nur zu spielen.

1998 landete der heute 38-jährige estnische Schauspieler und Musiker Jaan Tätte mit „Bungee Jumping“ in den westeuropäischen Theaterspielplänen. Auch hier betonte Tätte bereits das Moment des Spiels nach zunächst unbekannten Regeln, hielt Personen wie Setting zwischen Naturalismus und Märchenhaftigkeit schwankend und den Interpretationsspielraum möglichst groß. Damit hilft der Autor zunächst auch sich selbst, kann er doch in diesem weiten Raum manch Eindeutigkeit versenken: etwa, dass Lieben seliger macht denn geliebt zu werden. Und dass es der von allen missachtete „Arme“ ist, der am Ende noch einmal die Bombe zu zünden versucht, der schon einmal alle zum Opfer gefallen sind. Doch ohne entschiedenen Inszenierungswillen wirkt das Ganze wie lose Fäden ohne Knäuel.

Regisseur Henning Bock fügt diesen Fäden sogar noch ein paar weitere hinzu. So hat er dem schweigenden Sten eine Todessehnsucht angehängt und lässt ihn agieren wie aus einem fest verschlossenen Kokon heraus. Damit entgeht er immerhin der Gefahr, das Geschehen auf der Brücke zum Ideal zu stilisieren, denn als Erlösungsgeschichte ist es durchaus angelegt: „Wir hier“, sagt der Sprecher der Toten, „wissen alle nichts über die Liebe.“ Wie sie deshalb mit Leele auf das „Ich liebe dich“ hoffen und sich drei von ihnen sogar als Schicksalsregisseure auf die Brücke begeben, das wird durch wechselhafte Beleuchtung der Bühnenstockwerke aufs Schönste durchschaubar. Am Ende aber kommt die junge Frau weder zu ihnen, noch bleibt sie bei Sten.

Mit einfachen Bildern entscheidet sich Henning Bock gegen den Kitsch, der in der Thematik lauert, und lässt gegenüber den kleinen Plattformen für die komische und erotische Selbstinszenierung, die Tätte seinen Figuren eingerichtet hat, weise Vorsicht walten. Für die großen Emotionen hat er den Musiker Nicolai von Schweder-Schreiner angestellt, der als Bob Dylan der Unterwelt mit Hut und Gitarre Atmosphäre verbreitet. Aber was bloß ist Bocks Frage an das Stück?

„Es gibt Leute, die sagen, dass sie nicht alt werden wollen. Ich will als altes Mütterchen auf einer Parkbank sitzen und die jungen Leute beobachten, wie sie sich nicht trauen, das zu sagen, was man hätte längst sagen müssen … Weil sie glauben, dass sie alles noch vor sich haben, alle Zeit dieser Welt.“ Dies sagt Leele, die Todgeweihte – und man begreift, dass eben darin ihre große Chance liegt. Leele weiß das – und Sten weiß es auch. In Stuttgart wissen sie es vor flirrendem Himmel, der mit Gewitter droht, und da reichen sie sich auch zum ersten Mal die Hände.

Das ist schön, weil hier die Szene so klug ist wie die Figuren und diese nicht klüger als das Stück. Die Rolle des Auges beim Verlieben allerdings, der Tätte wiederholt sein Misstrauen ausspricht und von dem seine Figuren wenig wissen, ist hier noch längst nicht Bild geworden.