Vergletscherte Gefühle

Eingezwängt und schließlich ausgebrochen: In „Lovely Rita“ beleuchtet die Österreicherin Jessica Hausner eine kleinbürgerliche Welt aus der Sicht eines Teenagers – und lässt ihr Kino der Blicke und des beredten Schweigens in einer Katastrophe enden

von RETO BAUMANN

Rita ist fünfzehn und rebellisch. Die Enge des Elternhauses und des katholischen Gymnasiums lasten spürbar auf ihr, spürbar auch der Frost, der sich hier über die Seelen gelegt hat. In dieser Atmosphäre vergletscherter Normalität ist ein offen gelassener WC-Deckel Grund genug für väterliche Wut. Im hauseigenen Schießstand wird sie abreagiert, ehe wieder alles seinen gewohnten, immer gleichen Lauf nimmt.

Die Menschen um Rita herum, Schulkolleginnen, Lehrkräfte, Eltern, Freunde der Eltern, sie alle scheinen ihren Platz gefunden, es sich in der wohlhabenden Lieblosigkeit ganz gut eingerichtet zu haben. Mittendrin Rita, die sich beim Ungeliebtsein zuschaut, in rotziger Hilflosigkeit zwischen Auflehnung und Anpassung. Wenn sie die Schule schwänzt, wird sie zwar bestraft, aber die Gründe interessieren niemanden.

Auch die Versuche, außerhalb der Familie Nähe zu finden, oder etwas, das eventuell Liebe sein könnte, scheitern oder füllen zumindest die Leere nicht. Bis es schließlich in einem Film, dem so ziemlich alle Voraussetzungen für ein Drama fehlen, weil er in unspektakulärer Monotonie verharrt und auf jegliches Psychologisieren verzichtet, zur Katastrophe kommt, zum Elternmord: Rita findet die väterliche Pistole und drückt zweimal ab. Danach isst sie entspannt eine Leberkäs-Semmel, den Blick provokant in die Kamera gerichtet, als würde sie sagen: »Na, was machst du jetzt damit?« Schließlich hat nichts in ihrem bisherigen Werdegang auf eine solche Tat hingedeutet; Ritas Leidensdruck stand jedenfalls, so scheint es von außen, kaum im Verhältnis zur Radikalität ihres plötzlichen Ausbruchs.

Lovely Rita ist ein Film ohne eindeutige Stellungnahme, weil er von einem Mord erzählt, sich aber einem Urteil entzieht. „Ein waghalsiges Unterfangen“, findet auch Regisseurin Jessica Hausner. „Die Wertesysteme einer Gesellschaft dienen ja auch dazu, den Einzelnen aufs richtige Gleis zu setzen und damit kontrollierbar zu machen. Wenn Rita nun ohne exakt nachvollziehbaren Grund diese Tat vollbringt, hat das mit Anarchie zu tun. Wenn man so will, mache ich eine anarchistische Stellungnahme.“

Die Erklärung als Feind der Klarheit also. Dazu passt, dass Ästhetik nie zur Beruhigung benutzt wird. Vielmehr bleibt Lovely Rita einer ganz profanen Wirklichkeitsnähe verhaftet und dabei in einem Schwebezustand, wobei man beim Betrachten das Gefühl hat, hier werde zugleich aus der Peripherie und aus der Mitte heraus erzählt.

Das Wesentliche aber liegt stets jenseits des Sicht- oder Hörbaren. Im leeren Blick von Rita (Barbara Osika) zum Beispiel. Hinzu kommt, dass der Film nicht über eine Identifikation mit Rita funktioniert. Hausner erzählt nicht die Geschichte eines speziellen Mädchens, das die Eltern umbringt. Vielmehr zeichnet sie ein allgemeineres Bild von Beengung. Und das in einem Kleinbürgermilieu, in dem die Menschen vereinsamen, weil sie anscheinend verlernt haben zu sagen: „Ich möchte, ich wünsche, ich denke, ich bin.“ Sie funktionieren einfach, auch Rita. „Da ist ein generelles Alleinsein zu spüren und die Sehnsucht, dieses zu überwinden“, so Hausner. „Ich denke aber, dass diese Sehnsucht größer ist als ihre Erfüllung im Laufe des Lebens.“

Eine Tendenz zum Fatalismus prägt denn auch den Film. Wenn zum Beispiel gezeigt wird, wie sehr Rita die väterliche Zwanghaftigkeit verinnerlicht hat: Laufend richtet sie wie er Bilder an der Wand gerade, auch nach dem Mord. Als gäbe es kein Loskommen. Die Konsequenz, mit der Hausner Kälte sucht, ist beeindruckend.

Lovely Rita: 16. – 22.5. jeweils 18.30 Uhr sowie 16.–19.5. auch 22.30 Uhr, Zeise