Keine Haarspalterei


von BETTINA GAUS

Wer es gut mit Gerhard Schröder meint, dürfte den Pfingstausgaben der Tagespresse mit gewissem Unbehagen entgegen sehen. Heute soll nämlich in Hamburg das Urteil darüber fallen, ob und mit welchem Nachdruck der Nachrichtenagentur ddp für alle Zeiten jegliche Spekulation darüber untersagt wird, woher der Bundeskanzler seine schöne, dunkle Haarfarbe hat. Vom lieben Gott oder aus der Tube. Es ist gut möglich, dass sich noch eine höhere Instanz mit dieser Frage befassen muss. Aber für ein paar Kommentare reicht auch ein erster Richterspruch, und sie werden ziemlich gemein ausfallen.

Schröder macht sich lächerlich: so lautete bereits bisher die übereinstimmende Meinung der politischen Beobachter. Was in den Augen jener Berater, die diesen Prozess für eine gute Idee halten, gewiss lediglich beweist, dass es auf der Welt nicht gerecht zugeht. Als ob Haare und Kopfschmuck bedeutungslos wären! Die Indianer wussten schon, warum sie ihre Feinde skalpierten und die Macht eines Häuptlings durch prächtigen Federschmuck betonten.

Volles Haar war seit je ein mythisches Symbol für Kraft – und deshalb wurde in diesem Bereich stets gerne nachgebessert. Richter und Adlige wollten mit Perücken den Eindruck von Würde vermitteln. Bei den alten Griechen galt das Haar als Sitz des Lebens. Ein Haar in der Hand eines Zauberers verschafft ihm Macht über seinen Träger. Und da soll sich Gerhard Schröder widerstandslos nachsagen lassen, er täusche Kraft und Macht vor, die ihm gar nicht zu Gebote stehen? Im politischen Raum mögen solche Vorwürfe ja noch hingehen. Aber irgendwo muss ein Mann eine Grenze ziehen.

Das verräterische Weib

Dem Vernehmen nach hat Kanzlergattin Doris zu dem Prozess geraten. Warum? Der biblische Simson, ein Held von gewaltiger Körperkraft, wurde von seiner Geliebten Delila seines Haupthaares beraubt, des Trägers seiner Stärke. Der niederträchtige Griff zur Schere schenkte den bis dahin hoffnungslos unterlegenen Philistern den Sieg. Ach ja, das verräterische Weib. Ein ewiger Topos. Dem sich immer wieder neue Aspekte abgewinnen lassen.

Kristina Gräfin Pilati, die Lebensgefährtin von Rudolf Scharping, erzählte kürzlich der Bunten manch Wissenswertes über den wahren Charakter des Verteidigungsministers: „Er neigt nicht zum Grübeln. Aber dass Rudolf nachdenkt, merkt man schon. Ich versuche dann, ihn von Störungen fernzuhalten.“ Wenn es nicht zu häufig vorkommt, lässt sich das einrichten. Die Gräfin und der Minister hatten die Illustrierte ein weiteres Mal an ihren Urlaubsort nach Mallorca eingeladen, um dem durch ein früheres Interview entstandenen, fatalen Eindruck entgegenzuwirken, sie hätten in den Ferien einfach eine gute Zeit.

„Der Minister ging in Akten baden“, titelte die Zeitschrift denn auch, und darüber hat sich Rudolf Scharping bestimmt gefreut. Bösartige Leute haben diese Überschrift allerdings als höhnisch empfunden. Es sind dieselben Leute, die sich fragen, warum zwei kluge Frauen – eine renommierte Familienanwältin und eine ehemalige Journalistin – ihre Männer nicht an absurden Interviews und Prozessen hindern, sondern sie sogar noch zu ermuntern scheinen. Vielleicht gibt es eine einfache Erklärung. Sie wollen die Geliebten endlich ganz für sich alleine haben. Die Chancen steigen, dass dieser Wunsch bald in Erfüllung geht.

Für weibliche Ränke bietet sich fast immer eine Deutung an, mag sie auch noch so falsch sein. Aber weshalb greifen zwei Politiker, von denen zumindest einer als großes Talent im Umgang mit den Medien gilt, zu derart abstrusen Maßnahmen der Imagepflege? Auch dafür gibt es eine ganz schlichte Begründung: Politische Symbolik hat inzwischen eine so große Bedeutung erlangt, dass sie immer häufiger mit realer Politik verwechselt wird.

Früher kannte man Vergleichbares fast ausschließlich aus den Ländern des Ostblocks. Die berühmte „Kreml-Astrologie“ war deshalb so wichtig, weil die Meinungsbildung der Politiker hinter verschlossenen Türen stattfand. Staat und Gesellschaft waren nicht transparent. Worauf deutet es hin, wenn auch in einem Land wie der Bundesrepublik die politische Symbolik mehr und mehr in den Vordergrund rückt?

Nein, darauf nicht. Die Unterschiede zwischen den Systemen sind weiterhin groß. Im Ostblock wies die Bedeutung der politischen Symbolik wenigstens stets über sich selbst hinaus. Es war durchaus vernünftig, aus einem so banalen Ereignis wie der Teilnahme eines Politbüromitglieds an einem Empfang auf die grundsätzliche Bereitschaft zu vertieften politischen Kontakten zu schließen. Aus dem Streit über die Qualität der Haare des deutschen Kanzlers lassen sich hingegen keinerlei Folgerungen für sein politisches Handeln ziehen. Hier wird die politische Symbolik zum Selbstzweck. Was sagt das über das Bild aus, das die Regierenden von den Regierten haben?

Wir sollen keine Mutmaßungen mehr darüber anstellen, ob die Haarfarbe des Kanzlers nun echt ist oder nicht. Über die Frage, warum ihm das so wichtig ist, kann jedoch – der Pressefreiheit sei Dank – nach Herzenslust spekuliert werden. Alle Sterndeuter kommen in dieser Hinsicht zu demselben Ergebnis, das indirekt auch der Anwalt des Klägers vor Gericht bestätigt hat. Gerhard Schröder befürchtet, Gerüchte über seine angeblich gefäbten Haare könnten seine Glaubwürdigkeit schmälern.

Wer seine Haare tönt, frisiert auch Statistiken: Dieser Vorwurf wird von Wahlstrategen deshalb für gefährlich gehalten, weil die Unionsparteien einen Wahlkampf führen wollen, in dem das Thema Glaubwürdigkeit eine besondere Rolle spielt. Glaubwürdigkeit, wohlgemerkt – nicht etwa Ehrlichkeit. Der Begriff der Glaubwürdigkeit ist mit der Außenwirkung untrennbar verbunden. Ein notorischer Lügner kann überaus glaubwürdig sein. Als überaus ehrlich lässt er sich hingegen nicht bezeichnen. Die Frage der Wirkung spielt im politischen Streit eine sehr viel größere Rolle als die Wirklichkeit.

Glaubwürdig oder ehrlich?

Die Konservativen hoffen, mit einem solchen Wahlkampf missglückte Medienauftritte des Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber in einen Vorteil ummünzen zu können. Er soll dargestellt werden als einer, der sich nicht verstellen kann und das auch nicht will, und der gerade deshalb im Fernsehen etwas ungelenk wirkt. Falls diese Strategie aufgeht, dann droht jeder gelungene Auftritt für Gerhard Schröder zum Bumerang zu werden. Je besser er sich verkauft, desto geringer die Glaubwürdigkeit. Es ist verständlich, wenn er nun meint, eine öffentliche Diskussion über den Ursprung seiner Haarfarbe habe ihm gerade noch gefehlt.

Nicht alles, was verständlich ist, ist aber zugleich auch klug. Der Denkfehler des Kanzlers und seiner Berater liegt nicht einmal in erster Linie darin, dass sie die Gefahr der Lächerlichkeit durch diesen Prozess unterschätzt haben. Etwas anderes dürfte sich langfristig noch als sehr viel nachteiliger auswirken: Der Gang zum Gericht hat der Bevölkerung deutlich vor Augen geführt, was diejenigen von ihrer Intelligenz halten, die von ebendieser Bevölkerung gewählt worden sind. Gar nichts nämlich.

Man muss schon eine ganz außergewöhnlich niedrige Meinung von den Leuten haben, um glauben zu können, sie ließen sich in ihrer Wahlentscheidung tatsächlich davon beeinflussen, ob der Bundeskanzler nun seine Haare tönt oder ob er das nicht tut. Selbstverständlich ist niemand davor gefeit, dass irrationale Ressentiments und Vorurteile ins eigene politische Urteil einfließen. Aber von der Einsicht in diese betrübliche Tatsache bis hin zu der Sorge, die kosmetischen Gewohnheiten des Regierungschefs könnten über parlamentarische Mehrheiten entscheiden, ist es denn doch ein weiter Weg. Rolf Spaethen, ein Gewerkschaftsführer aus den Gründerjahren der Republik, hat einmal zu Recht gesagt: Die viel geschmähte Masse ist gar nicht so dumm.

Wer anderes unterstellt, der spricht eine Beleidigung aus. Gegenüber der Bevölkerung, oder um ein anderes Wort zu benutzen: gegenüber dem Volk, das ja doch immerhin der Souverän ist. Wenn ein demokratisch gewählter Regierungschef einen derartigen geistigen Hochmut jenen gegenüber an den Tag legt, die seine Partei wählen sollen, dann hat er alle bösen Kommentare verdient.

Allerdings scheinen die meisten Leitartikler die Einschätzung des Kanzlers im Grundsatz weitgehend zu teilen. Das negative Presseecho für Gerhard Schröder beruhte nicht auf seiner völlig unangemessenen Verachtung einer demokratischen Öffentlichkeit gegenüber, sondern lediglich darauf, dass die Kommentatoren meinen, er werde mit diesem Prozess das Gegenteil dessen erreichen, was er beabsichtigt hatte: Nun rücke das Thema nämlich überhaupt erst in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit.

Journalisten, die so argumentieren, geben damit zu erkennen, dass sie die grundsätzlichen Überlegungen, die Schröder zu seinem Schritt veranlasst haben, keineswegs für absurd halten. Sie glauben lediglich, dass das, was er sich wünscht, nicht funktionieren wird – aber sie stellen sein Menschenbild nicht in Frage. Vor diesem Hintergrund sollten sich weder Medien noch Politiker über ihr sinkendes öffentliches Ansehen wundern. Niemand lässt sich gern die Würde nehmen.