Im Gasthaus Insomnia

Ein nächtlicher Flaneur ist der Erzähler bei Jochen Schimmang. „Die Murnausche Lücke“ beschreibt schlaflose Nächte und ruhelose Menschen an der deutschen Nordseeküste

Murnau heißt der Erzähler in Jochen Schimmangs neuem Roman, einst war er ein exzellenter Mathematiker mit besten Aussichten auf einen renommierten Lehrstuhl in England oder auch sonst wo. Jetzt, zu Beginn der in der Ichform erzählten Geschichte, hockt er im Gasthaus namens Insomnia, jenem allnächtlichen Treffpunkt der Schlaf- und Ruhelosen. Gestrandet ist er hier nicht; ebenso wenig könnte man behaupten, dass er – wie weiland viele 68er im postrevolutionären wie -koitalen Stadium bekannter Nachwehen – einfach nur ein „ausgebrannter Lebensprofi“ ist (so etwa Nicolas Borns Held in „Die erdabgewandte Seite der Geschichte“). Nein, nachdem die Mathematik ihren Reiz und die Karriere ihren materiellen Anreiz eingebüßt hat, hat es dieser Murnau einfach vorgezogen, sich an die deutsche Nordseeküste und aufs Land zurückzuziehen, um hier sein letztes großes Projekt zu realisieren – ein Buch über die Geschichte der Mathematik – und zwar als Kinderbuch.

Es gibt dabei aber ein großes Problem: die Schlaflosigkeit, unter der Murnau seit frühen Tagen nicht eigentlich leidet, die ihm aber – sagen wir es einmal so – ungewohnte, geradezu antizyklische Rhythmen abnötigt. Nächtens schlägt er sich die Stunden um die Ohren und die müden Augen. Nur selten trifft er auf solch beglückende Lektüreerlebnisse wie Spinozas Ethik, die ihn nach kurzer Zeit „in einen sanften Schlaf“ fallen lässt, aus dem er am nächsten Morgen um neun „unter Tränen des Glücks“ erwacht. Stattdessen begegnen ihm bei seinen nächtlichen Streifzügen andere Unbehauste und Schlafgestörte, Genies und genialisch Verwirrte, deren Geschichten sich der Erzähler anhört und die er dann aufschreibt.

Murnau ist so etwas wie die Nachtausgabe eines Flaneurs, freilich nicht der Großstadt, sondern der Beschaulichkeit, des engen Rayons in einer Kneipenszenerie, deren Geschichten und Geschicke er in einer Haltung flaubertscher Impassibilité zum Besten gibt. Einzig noch die Arbeit an seinem Mathematikbuch treibt ihn ein wenig voran, dann aber, als das Buch vor dem Abschluss steht, heißt es gleich mehrfach apodiktisch: „Es ist nichts mehr zu tun, Murnau, wiederholte ich mir, nie mehr, und mit diesem Gedanken schlief ich ein.“

Doch genau dieser Haltung verdanken wir eben jene insgesamt wundervolle Geschichte vieler schlafloser Nächte und ruheloser Menschen – etwa über den Schüler, der kurz vor der Lösung eines uralten mathematischen Problems steht, aber dann durch einen dummen Zufall (oder war es Absicht?) umkommt. Oder über Dr. Winter, einen bekannten Anästhesisten, der quasi über Nacht verschwindet, seine bürgerliche Existenz aufgibt, um vom Erzähler in Amsterdam zufällig in der Rolle eines Armenarztes mit neuer Identität wiedergefunden zu werden. Am Ende taucht sogar die – abgestanden geglaubte – poetische Versöhnung und ein gelungener, ja ein gerundeter Abschluss wieder auf, wenn der Erzähler sich auf gänzlich unverkitschte Weise ins Bett der russischen Kellnerin Katharina aus dem Insomnia legt: „ ‚Es bleibt nichts mehr zu wünschen übrig‘, sagte sie und zog sich aus.“

Mehr noch: „Spätsommer, (…) und verschlungen (…) schliefen wir endlich, nach aller Mühe, allem Spiel.“ Ende gut, alles gut – Liebe und Schlaf finden sich vereint, und auch das Erzählen darf schließlich im beredten Schweigen ausklingen. WERNER JUNG

Jochen Schimmang: „Die Murnausche Lücke“. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2002, 176 Seiten, 18,50 €