Freiwillig im Rampenlicht

Der französische Künstler und Autor Jean-Michel Bruyère gerät mit seinem unkonventionellen Straßenkinder-Projekt nicht selten in die Kritik. Jetzt zeigte er in Saarbrücken „Kinder der Nacht“

Zu oft bleibt ein Gefälle zwischen Opfer und Helfer bestehen

von JULIA GROSSE

Nachts fühlte Ibrahima Konaté sich besser. Da war es für ihn fast ein Glück, auf der Straße zu sein. „Wenn es ein Haus, eine Familie hat, dann kann ein Kind in meinem Alter die Nacht nicht kennen lernen. Es hat alles, was ich nicht habe, aber ich besitze das Einzige, was ihm fehlt. Die Freiheit, die Nacht zu erleben“, schrieb er, damals elfjährig, in seinem „Gedicht an das Gegenteil vom Tag“.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Ibrahima, auch genannt Ibé, bereits drei Jahre auf Dakars Straßen gelebt. Im ganzen Senegal tun das zurzeit rund 300.000 Kinder. Nachts war Ibé aktiv, lebte er. Tags schlief er, von der Gesellschaft komplett ignoriert. Nun, sechs Jahre später, ist das anders. Der Tag ist inzwischen wichtiger als die Nacht. Ibé verdient regelmäßig Geld, spricht perfekt Französisch, schreibt Gedichte, hat ein Appartement. Dankbar dafür ist er niemandem. Doch zufrieden. Dass es da plötzlich diesen Typen gab, der ihn und die anderen ansprach.

Das war 1996 und auch Jean-Michel Bruyère, 1959 in Frankreich geborener Künstler und Autor, hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung, was aus diesem ersten, zögerlichen Kontakt zu Dakars Straßenkindern, den Faxemen, enstehen würde. Der in Dakar lebende Franzose hatte kein Programm, kam von keiner Hilfsorganisation. „Wir lernten uns kennen, doch die Kinder waren misstrauisch.“ Über Monate ließen Bruyère und der senegalische Künstler Moustapha N’Doye die Kinder erzählen, in Wolof, der Umgangssprache Dakars. Alles wurde aufgeschrieben und übersetzt. Die entstandenen Geschichten erzählen von Gewalt, Trauer, Ironie und Zorn. Der offene Dialog ist bis heute der entscheidende Motor für den Erfolg dieser Begegnung.

Anfang 1997 gründete Bruyère gemeinsam mit anderen Künstlern die Assoziation Man-Keneen-Ki („Ich-der-andere“) in Dakar. Ein Ziel war die Zusammenarbeit internationaler und lokaler Künstler mit Dakars Straßenkindern. Inzwischen ist das Haus von Man-Keneen-Ki ein großes Zentrum geworden, es gibt Ateliers, Theaterräume, eine Schule, Schlafplätze für die ganz Kleinen, eine medizinische Versorgung, 24 Stunden geöffnet. Finanziert wird alles durch die Mitglieder. Doch ist das Zentrum wegen seiner bewussten Distanz zur Struktur von Hilfsprojekten häufig in die Kritik geraten. Man warf Bruyère Manipulation der Kinder zum künstlerischen Selbstzweck vor. Da stelle sich einer mit der Ausbildung von Straßenkindern zu Malern, Schriftstellern, Filmemachern oder Fotografen eine eigene Künstlerarmee zusammen. Auch das Fehlen eines festen Programms führte zu Irritationen. So waren hilfsbereite Spender extrem verärgert, als sie erfuhren, dass Bruyère von dem Geld eine Playstation gekauft hatte. „Die Kinder wollten eine. Wir sind keine Hilfsorganisation!“

Hinter Bruyères Provokation steckt eine Aufforderung. Die Aufforderung, Menschen ohne gesellschaftliche Existenz die Chance zur eigenen Emanzipation zu geben. Zu oft bleibt ein Gefälle zwischen Opfer und Helfer bestehen, schwingt bei Entwicklungsprojekten ein Anspruch auf Dankbarkeit mit. Jean-Michel Bruyère will keine Dankbarkeit. Die letzten fünf Jahre hat er 24 der Kinder adoptiert. „Mehr Adoptionen kann ich mir finanziell nicht leisten.“ Die Älteren unter ihnen, so wie Ibé, leben ab 16 im eigenen Appartement. Es sind alles Jungen. „Es leben wenige Mädchen allein auf der Straße. Die meisten sind in Begleitung ihrer Eltern oder leben in Dakar bei Verwandten“, sagt Ibé. Warum ein Kind die Familie verlässt, hat verschiedene Gründe. Neben der sozialen Not, die in den extrem verarmten Vorstädten Dakars herrscht, ist es manchmal auch die Gewalt innerhalb der Familie.

Ibé ist einer der wenigen, der wieder Kontakt zu seiner Familie hat. „Meine Mutter versteht nicht, was ich mache, doch sie ist froh.“ Alles, was Ibé im Zentrum gelernt hat, literarisches Schreiben, Schauspielen, Artistik, vermittelt er nun weiter an die Jüngsten. Es ist auch Ibé, der die ganz kleinen Faxemen bewusst auf der Straße sucht, um sie in das Haus zu holen. Auswahlkriterien gibt es dabei keine.

Mit Bruyères Kontakten zur internationalen Kunstszene konnte bisher viel realisiert werden: Ibé veröffentlichte seine Geschichten und Gedichte in einem Buch. Der 17-jährige Barbarcar Sy bekam mit seinen abstrakten Bildern eine Einladung von einer Galerie in Rom. Sada Tangara wird seine Fotografien der Faxemen von Dakar in Paris ausstellen und Papisthione wurde mit einem Film über seine Vergangenheit auf der Straße an der Kölner Filmhochschule angenommen. Jeder von ihnen studierte vier Jahre lang ein künstlerisches Fach bei Man-Keneen-Ki. „Ich will Beachtung. Damals wurde ich übersehen. Heute führe ich plötzlich Dialoge mit Leuten“, erklärt Ibé. „Ich rede nicht gerne über die Vergangenheit. Doch sie ist ein Teil von mir, also schreibe ich darüber.“

1998 gingen die Assoziation und ihre jungen Künstler erstmals für ein Projekt nach Europa. Im Rahmen der Biennale in Bonn traten dreizehn der Kinder und Jugendlichen auf die Bühne, klagten ihr Publikum an. Viele Besucher reagierten auf die direkte Konfrontation verstört und wieder wurde Kritik laut. Bruyère musste sich den Vorwurf der Manipulation und Vorführung der Kinder zugunsten eines künstlerischen Ereignisses anhören. Er reagierte gelassen. „Ich manipuliere. Aber die Kinder manipulieren mich auch. Na und? Frankreich manipuliert auf höchster Ebene und nennt es staatliches Bildungswesen. Wo ist also das Problem? Ich schubse keinen ins Rampenlicht, wie das Eltern bei Britney Spears getan haben.“

Erst dieser Tage fand eine weitere Aktion von Man-Keneen-Ki in Deutschland statt. Während des deutsch-französischen Theaterfestivals „Perspectives Nouvelles“ in Saarbrücken wurde in einem Bunker „Kinder der Nacht“ gezeigt. Mit Taschenlampen in der Hand stießen die Besucher auf Relikte von der Straße, Lumpen, Klebstofffläschchen, sahen Filme von den Straßen Dakars und erschraken vor den Kindern, die leibhaftig vor ihnen auf dem Boden hockten und so zu Akteuren ihres eigenen Schicksals wurden. Indem man ihre Körper in der Dunkelheit übersah, thematisierte man ungewollt die gesellschaftliche Abwesenheit eines Straßenkindes. In einem Tunnel standen rechts und links Jungen hinter Folie, aggressiv, unter Strom. Wieder wurde der Besucher unangenehm konfrontiert. Das Ausgestelltsein wurde zum Spiel.

Doch auch wenn „Kinder der Nacht“ damit spielte, bleibt die Frage, wie die jungen Akteure sich fühlten. Vorgeführt als Ex-Underdogs, ehemals Verlierer der Gesellschaft? Ibé sieht es gelassen. „Ich fühle mich irgendwie nicht anders, als ein Schauspieler sich fühlt, wenn er spielt.“