Nahostgeflüster hinter Kremlmauern

Im Nahostkonflikt hat sich Russland noch nicht positioniert. Doch während der Exodus russischer Juden Moskaus Verhältnis zu Israel verändert hat, sind die Beziehungen zu den einstigen arabischen Verbündeten merklich abgekühlt

MOSKAU taz ■ Ein Meer von israelischen Fahnen wogt über der Menge. Demonstranten haben sich vor der Synagoge im Moskauer Zentrum eingefunden, um Solidarität mit Israel zu bekunden. Wer die Flagge hochhält, hat Verwandte oder gute Bekannte in Israel. Darum hatte die Jüdische Gemeinde Moskau gebeten.

Der Exodus sowjetischer Juden seit 1990 hat das Verhältnis Russlands zu Jerusalem verändert. Eine wichtige Rolle als den Palästinensern zugetaner Friedensbroker spielte Moskau zum letzten Mal auf der Madrider Nahostkonferenz 1991. Seither hat sich der Kreml aus der Nahostpolitik zurückgezogen und den USA das Feld überlassen. Anfang der Woche jedoch schickte das Außenministerium den Sondergesandten Andrej Wdowin zu Gesprächen mit Israelis und Palästinensern in die Region.

In akzentfreiem Russisch erzählt die Israelin auf der Bühne vom Tod ihres Sohnes in der Armee. Die moralische Unterstützung der Anwesenden ist ihr gewiss. Israels Premier Ariel Scharon weiß das zu schätzen. In einer Live-Übertragung aus Israel in Moskaus größter Synagoge forderte er vor kurzem Russlands Juden auf, noch zahlreicher in die historische Heimat überzusiedeln.

Inzwischen leben eine Million sowjetische Juden in Israel. Eine zweite russische Revolution hat stattgefunden. Russisch ist auf dem besten Wege, zur dritten Amtssprache zu werden. Diese Neubürger zählen zu den verlässlichsten Verfechtern einer militärischen Lösung des Nahostkonfliktes. Sie neigen dazu, Neuland eher mit der Waffe zu verteidigen denn einen Kompromiss zu suchen. Sie glauben, die neue Heimat zu schützen, indem sie die Grenzen nach vorn verteidigen. Die militaristische Vergangenheit der UdSSR kommt den Übersiedlern zugute, die Armee gilt als ihre Domäne, in der sie Karriere machen und so schneller in die israelische Gesellschaft integriert werden.

Der Kreml spricht über den Nahen Osten nur im Flüsterton. Eine klare Politik hat Moskau nicht formuliert. Politiker, Beobachter und jüdische Geistliche wie David Karpow sind sich darin einig. Der Rabbiner würde ein offenes Bekenntnis zu Israel begrüßen. Widerstände in der politischen Elite, wie sie nach dem 11. September gegen den Westschwenk Präsident Wladimir Putins deutlich wurden, wiederholen sich auch in der Palästinapolitik. Die Elite hält an der arabischen Welt als potenziellem Verbündeten fest. Putin laviert. Es gilt Balance zu wahren, aber auch einzugestehen, dass die wahhabitischen Rebellen in Tschetschenien aus der arabischen Welt unterstützt werden.

Es sei nicht ausgeschlossen, so Beobachter, dass der jüdische Faktor langfristig auch in Moskau innenpolitisch zu einer festen Größe werde. Beide Seiten, Washington und Moskau, haben in letzter Zeit ihr Verhältnis zu den Schutzbefohlenen verändert. Als der Vorsitzende des Oberhauses der Duma, Sergej Mironow, im März auf Einladung der Knesset in Israel weilte, stattete er Palästinenserführer Arafat keinen Besuch ab.

Mironow ist der dritte Mann im Staat und enger Vertrauter Putins. Mironows lapidare Begründung war, der Terror in Israel habe die gleichen Wurzeln wie in Tschetschenien und Afghanistan. Das Establishment kochte. Aus dessen Sicht war es ein freiwilliger Verzicht auf Einflussnahme in der arabischen Welt.

Die traditionelle Nähe zwischen Arabern und Moskau ist indes längst ein Mythos. Selbst Bagdad sucht für die Zeit nach den Sanktionen einen westlichen Ersatz für jedes mit Russland vereinbarte Projekt. Die arabische Welt, so ein russischer Diplomat, erinnere sich des einstigen Freundes nur, wenn sie dessen Stimme in internationalen Organisationen benötige. Außenminister Igor Iwanow verteidigte die Interessen der Palästinenser noch, als Putin schon die Losung ausgab, auf Terroranschläge gelte es angemessen zu reagieren. Argumentationshilfe erhielt der Kremlchef in der Duma vom Vizechef des Verteidigungsausschusses Sergej Arbatow: Arafat sei Russlands Maschadow, jener tschetschenische Präsident, der weder die Kaukasusrepublik lenken noch die radikalen Muslime zügeln konnte.

Ob Moskau noch lange zuschaut, bleibt offen: Von einer Teilnahme an der Konfliktregulierung könnte es nur profitieren, etwa im Rahmen einer neuen, internationalen Nahostkonferenz. In Nahost wird nicht nur über die künftige Rolle der USA und die innere Beschaffenheit der arabischen Welt entschieden. Dort werden auch die Weichen der Energiepolitik und der Anbindung Russlands an den Westen gestellt. Moskaus oberster Rabbiner ist zufrieden: In Russland habe es keine antiisraelischen Ausschreitungen gegeben. Andere Stimmen sagen sogar, damit sei der russische Antisemitismus als Mythos entlarvt.

Der Dumaabgeordnete Nikolai Gontscharow reist derweil regelmäßig nach Aschdschod, Tel Aviv und Haifa. Dort betreut er seine Wähler. Im Wahlkreis Moskau-Zentrum sind 72.000 Bürger registriert, die in Israel leben, ihren russischen Pass aber behalten haben. KLAUS-HELGE DONATH