Kreuzigt mich nicht

Nie war ein Boxer umstrittener als Mike Tyson. Unflätig, grob, böse. Heute Abend kämpft er in Memphis/Tennessee um die Krone des Boxsports. Ein Porträt

von PAUL HAYWARD

Vor einem Stapel Bücher, darunter Macchiavelli und eine „Enzyklopädie des Verbrechens“, in der er vermutlich auch auftaucht, sitzt Mike Tyson in seinem Strandappartment in Hawaii auf einem Sofa, kaut auf der Ecke eines Handtuchs herum und starrt auf Renntauben im Internet. Lennox Lewis’ Gegner beim Kampf in Memphis besitzt „tausend Vögel“, und ein Freudenschauer durchzuckt seinen Körper, als eine weiß gefiederte Kreatur auf seinem Laptop auftaucht. Er ist zu sehr auf den Bildschirm fixiert, als dass er etwas mitbekäme von dem, was um ihn herum geschieht. Tyson wird seinen Auftritt haben, aber für den Moment ist er zu den Tauben zurückgekehrt, die er damals aufgezogen hat, als kriminelles Kind in Brooklyn.

Draußen, außerhalb dieses kleinen Kessels scharrender Füße und nervöser Blicke, üben sich junge Amerikaner im Wellenreiten, während Tyson weiter im Web surft, auf der Suche nach neuen Vögeln, die er ins Rennen schicken kann. Als er aus seinen Träumen erwacht, paradieren zwei, drei, ein halbes Dutzend kleine Mike Tysons für das kleine Publikum, das er zu sich gebeten hat.

Er erzählt uns, er müsste uns eigentlich verprügeln für all die Sachen, die wir einst über ihn geschrieben haben, und setzt dann zu einem fünfzigminütigen Erzählfluss an, über amerikanische Literatur, Jesus Christus als Kommunist („Ich denke, der hat Gras geraucht und ist high geworden“), Verrat, Striplokale und die Einzelheiten seines sexuellen Appetits, der sowohl enorm als auch außerhalb jener Publikationen, die in den Regalen ganz oben stehen, nicht zu beschreiben ist.

Wer auch immer Tyson in Kindheit und Jugend um den Verstand gebracht hat, hat seinen Job ausgesprochen gründlich erledigt. Überall steht mentales Mobiliar herum. Aber wer einmal bei diesem Herumstochern in seinem Bienenstock dabei war, merkt, dass ein Stück Performance dabei ist, das er benutzt, um einem Ehrgeiz gerecht zu werden, sich als öffentliches Hassobjekt Nummer eins zu präsentieren.

Als Tyson gerade die Website einer türkischen Renntaube ansieht, fällt mein Blick auf ein anderes der Bücher in einem Stapel am Fenster, hinter seinem Kopf: Die „Ultimative Enzyklopädie der Mythologie“ – in der Tyson womöglich ebenfalls auftaucht. Er bezeichnet sich selbst als „Holzkopf“, aber er kann fesselnd und eloquent auftreten. Und Mythen haben die Eigenart, sich immer dann aufzublasen, wenn ein Kampf näher rückt und es darum geht, Pay-per-View-TV-Lizenzen zu verkaufen.

Nicht, dass eine gewisse Grundskepsis davor bewahren kann, dass einem das Blut stockt, wenn Tyson seine Absicht erklärt, Lewis „umzubringen“; oder wenn die Frage eines Reporters bei ihm alle Hebel auf Wut stellt. Ich wette, nicht einmal ein Kriegsreporter bekäme es nicht mit der Angst zu tun, wenn „Mad Mike“ zum Angriff übergeht. Er ist der ultimative Nihilist. Aber er kann überraschend lyrisch werden, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass er mit der Welt doch intellektuell stärker verbunden ist, als er zeigt. Gefühlskälte ist eines seiner Vermarktungsmerkmale – aber es scheint, als möge er die Rolle.

Ein Beispiel: „Ich bin nur ein dunkler Typ aus einer Lasterhöhle. Eine dunkle Schattenfigur aus den Eingeweiden des Lasters. Ich wünsche, ich könnte einfach Mike sein, ein ganz normaler Typ. Aber eine Lüge und eine Wahrheit passen nicht zusammen. Dieses Land ist nicht auf Moral gebaut. Dieses Land beruht auf Vergewaltigung, Sklaverei, Mord, Erniedrigung und Verbrechen.“ Nach einer halben Stunde baut ihm sein Manager Shelly Finkel einen goldenen Ausweg: „Zwei Fragen noch“, kündigt er an. Aber Tyson will weiter diskutieren. Er mag den Zweikampf. Einmal im Jahr auf jeden Fall.

Manche argumentieren vehement, dass Mike Tysons Bücher einfach da herumstehen, weil er sie im Gefängnis irgendwie bekommen hat. Aber niemand lässt sich den Titel von Arthur Ashes Autobiografie („Days of Grace“) auf den Arm tätowieren, ohne nicht wenigstens den Klappentext gelesen zu haben. „Macchiavelli in Hell“ von Sebastian De Grazia gehört zu den Büchern, die er sich für den Strand mitgenommen hat, wo die Palmenblätter bei seinen Strandläufen rascheln. „Das ist Unterhaltung für mich“, beteuert Tyson. „Diese Bücher sind keine Dekoration. Ich finde, Macchiavelli ist – abgesehen von Shakespeare – einer der fortgeschrittensten Autoren. Seiner Zeit Meilen voraus. Ein cleverer Typ. Alles was er geschafft hat, erreichte er durch Arschkriechen.“

Und: „Ich mag die hippen Autoren: Fitzgerald, der Typ, der Selbstmord begangen hat. Hemingway, all diese Typen. Einige von ihren waren Alkoholiker und Drogensüchtige, aber sie hatten ihren Spaß. Sie waren echte Menschen. Sie haben die Kultur der amerikanischen Literatur geprägt. Hemingway hat Tolstoi bewundert, Tolstoi hat Puschkin bewundert, und Mailer hat Hemingway bewundert. Da fließt alles zusammen, die Großen sind alle miteinander verwoben. Eines Tages werde ich selbst ein Buch schreiben. Das erste Kapitel wird darum gehen, was für ein hartes Los meine Mom hatte. Sie hat an euch und eure Gesellschaft geglaubt.“

Sein Gesicht ist sanft und geölt, und die Muskulatur seiner Arme und Beine ist klar definiert. Sechs Wochen vor dem Kampf ist das ein gutes Zeichen (wenn auch nicht für Lewis). Vor dem Interview wurde uns gesagt, wir sollten uns auf Fragen zum Boxen beschränken. Aber Tyson gibt auf alle Fragen zum Boxring nur einsilbige Antworten. Die alten Themen langweilen ihn. „Ich arbeite gerade daran, gesellig zu werden“, sagt er. Es bleibt nicht viel ausgespart.

Es fängt holprig an. Sein Blick gilt immer noch den Tauben. „Ich weiß nicht einmal, wie ich hierher gekommen bin [nach Maui]. Ich bin einfach hier. Ich war einmal hier, als ich geheiratet habe. Aber es ging mir nicht gut. Warum? Weil ich nicht verheiratet sein wollte. Sollte ich jetzt nicht entspannt sein? Wie sollte ich denn sein? Wie würden Sie sich auf einen Kampf vorbereiten? Finden Sie, ich sollte irgendwo sein, wo es mir nicht gut geht? Mir ging es mein ganzes Leben lang nicht gut. Warum sollte ich es mir nicht gut gehen lassen? Ich kämpfe seit 25 Jahren. Ich weiß, wie man sich auf einen Kampf vorbereitet. Das wird ein sehr guter Kampf werden, einer der großen.“

Gelangweilt. Aber die Show kommt in Gang. Gefangen zwischen seiner Abscheu vor der Presse und seinem Wunsch, gehört zu werden (und Tickets zu verkaufen), setzt er zu einem seiner gewohnten aber nichtsdestotrotz überzeugenden Selbstrechtfertigungsmonologe an. „Zeig mir einen Helden und ich schreibe dir eine Tragödie“, sagt er, stolz auf die literarische Anspielung.

Ihr Typen wärt lieber bei jemandem, der eurem Status entspricht. Tiger Woods oder so jemand. Ich komm krass rüber, ein Neandertaler, manchmal ein stammelnder Idiot. Ich mag es, euch diese Person zu zeigen. Ich mag diese Person. Sie sorgt dafür, dass ihr herkommt und mir zuhört. Wenn ihr hierher kommt und etwas Respektloses über meine Kinder oder meine Mutter sagt, würde ich euch umbringen. Das wäre der wirkliche Mike. Aber ich bin auch wirklich großzügig. Ich würde euch meinen letzten Dollar geben. Don King und all diese Typen mussten mir mein Geld nicht stehlen. Ich schätze, ich habe es ihnen einfach nicht schnell genug gegeben.“

Es ist, als ob zwei Leute zugleich reden, die sich darum drängeln, dass ihre Worte aus dem gleichen Mund Gehör finden. Seine Helfer sagen nichts, lachen immer an der richtigen Stelle. Mike. Was für ein Kerl. Man weiß nie, was er als Nächstes sagt. „Ich liebe meine Frau. Ich liebe meine Kinder. Ich mische gern mal jemanden auf. Ich bin der Typ, den jeder irgendwann als bad nigger bezeichnen will. Habt ihr mal das Buch ‚Nigger‘ von Randall Kennedy gelesen? Nur Weiße haben das Recht zu sagen, was die Bezeichnung bedeutet, denn sie haben sie uns gegeben.“ Die Amerikaner um ihn herum fühlen sich bei der Benutzung des N-Wortes unwohl. Er genießt ihr Unbehagen.

Hört ihm weiter zu: „Hör zu, dein Großvater war ein Sklavenhalter“, sagt er. Zurück kommt der Einwand: „Meine Familie ist aus Italien.“ Aber Tyson ist darauf vorbereitet: „Ah, come on, man, sie haben auch in Italien Sklaven gehabt. Afrika ist ein italienischer Name. Jeder hat hier Angst, in irgendwelche Fettnäpfchen zu treten. Als Afroamerikaner, immer ganz am Boden dieses Scheißkessels, musst du das Beste daraus machen.“

Er wird später noch einmal auf dieses Thema zurückkommen, aber vorher geht es durch etliche Umleitungen und Exkurse. Aus dem Nichts taucht Reggie Kray auf, Brieffreund aus dem Knast und ewiger Held. Tyson vergibt großzügig, er verurteilt nicht – nicht einmal Gangster aus dem East End. „Reggie Kray hat mir jeden Tag ins Gefängnis geschrieben. Er hat mir Gedichte geschrieben. Vielleicht wollte er mit seinem eigenen Leben ins Reine kommen. Wir dürfen ihn nicht verurteilen. Ich liebe diesen Mann. Er ist ein wunderbarer Mann. Es ist mir egal, ob er ein Killer ist: Wenn du dich mir gegenüber loyal verhältst, liebe ich dich.“ Das bringt uns zu Tysons anderem Lieblingsthema: Loyalität, zweifellos einer der Hauptgründe für ihn, kürzlich etliche Leute aus seinem Camp zu werfen (Jay Bright, Steve „Crocodile“ Fitsch und Tommy Brooks, seinen Trainer).

„Verrat. Der Verräter ist ein Stück Dreck, der letzte Abschaum“, sagt Tyson. „Der Akt des Verrats ist eine Kunst, aber der Verräter selbst ist ein Stück Scheiße. Ich gebe dir mein letztes Hemd, wenn du mich liebst. Frauen sage ich manchmal: ‚Wenn du mich glauben machst, dass du mich liebst, gebe ich dir mehr [Geld].‘ Ich möchte einfach geliebt werden, wie jeder. Verantwortung? Zur Hölle, nein, ich übernehme keine Verantwortung.“

Die New York Times versucht einzuhaken. „Einen Moment, weißer Mann, bevor du dich hier zur Autorität über mich aufspielst. In einem Moment überfalle ich eine Drogerie. Im nächsten Moment bin ich der jüngste Schwergewichtsweltmeister. Ich bin gerade neunzehn, zwanzig Jahre alt, mit einer Menge Geld. Wer bin ich? Was bin ich? Ich weiß nicht einmal, wer ich bin. Ich bin nur ein dummes Kind, das von Anwälten missbraucht und ausgeraubt wird. Ich bin nur ein dummer, streitsüchtiger Narr. Ich bin ein Narr, der denkt, dass er wer ist. Und dann sagst du mir, ich soll verantwortungsbewusst sein. Ich bin wütend auf die Welt.“

Das ist Tysons Bitte um Gnade, seine bequeme Erklärung für alles, und niemand hat es je geschafft, ihm zu sagen, dass eine Menge Leute kaputte Kindheiten hatten, ohne sie als Rechtfertigung für asoziales Verhalten zu benutzen. Nur Tyson kann in einem direkten Schwenk von Tiger Woods auf seine eigene Unfähigkeit kommen, die richtige Art Frauen anzuziehen.

„Ich wäre sehr gern Tiger Woods. Ich wäre sehr gern Michael Jordan. Ich liebe die verbotenen Früchte genau wie jeder andere. Ich liebe meine Babys. Kreuzigt mich nicht für das, was ich bin. Ihr Typen habt so viel Schlechtes über mich geschrieben, dass ich mich schon gar nicht mehr erinnern kann, wann ich zum letzten Mal eine anständige Frau gefickt habe. Für mich bleiben immer nur Stripperinnen und Huren, weil ihr mir dieses Image verpasst habt.“

Einige im Raum erinnern sich bei diesen Worten daran, dass Mike Tyson, wenn er nicht mit einem außergewöhnlichen Talent zur Gewalttätigkeit gesegnet wäre, für diese Proteste genau einen Zuhörer fände: sich selbst. Aber es ist etwas Wahres daran, dass er noch immer der am leichtesten wiederzuerkennende Athlet der Welt ist – die Faszination des Bösen. Er versteht diese dunkle Seite, aber sie durchdringt ihn bis zum Kern. Und er benutzt sie, meistens als Waffe in der endlosen, kompliziert verknoteten Rassendiskussion in Amerika.

„Mike Tyson ist ein bad nigger, aber er ist sehr sehr populär“, erklärt er. „Er ist ein großer Nigger und ein böser Nigger, und wir können ihn benutzen. Ihr mögt das Wort nicht, stimmt’s? Warum mögen die Leute das Wort nicht?“ Merkwürdig gemurmelte Antworten. Im Raum ist es heiß. Nur Tyson scheint anzufangen, sich richtig wohl zu fühlen.

Weiter geht’s: „Ich bin viele Dinge. Ich bin ein Vater, ich war ein Ehemann, ich bin jemandes Bruder. Ich bin viele Dinge. Ich bin ein verurteilter Krimineller, ich bin ein Schwerverbrecher, ich bin ein Schwergewichtschamp. Viele Dinge. Wenn du einmal im Knast bist, verlierst du all deinen Stolz und deine Würde. Es ist mir inzwischen egal, was irgendwer denkt. Ich bin ein guter Freund, aber als Feind bin ich die Hölle. Als dein Feind will ich deinen Tod. Wenn ich das in meinem Herzen spüre, dann brennt das, bis ich tot bin.

Der Typ, der Candide geschrieben hat [Voltaire], und Tolstoi – das waren Revolutionäre. Und wenn du dich auskennst, dann siehst du, dass die Welt, in der wir leben, nicht die Welt ist, die wir uns darunter vorstellen. Manchmal verwechseln wir gute Leute mit dem Feind, weil die guten Menschen so aussehen wie der Feind.“ Tyson gefällt das. Er scheint energiegeladen, bereit fürs Training und seine anderen Sparringspartner. Aber irgendwie ist auch Ermattung zu spüren, als der Raum sich leert. Von seinem Sofa aus, zwischen seinen Büchern, starrt er zwei von uns mit diesem Blick an, von dem du nie genau weißt, was du damit machen sollst, und schüttelt seinen Kopf: „Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie weh das tut. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie weh das tut.“

PAUL HAYWARD, Jahrgang 1959, lebt als Reporter in London. Sein Text, den er nach einem Besuch Tysons auf Hawaii verfasste, stand original zunächst im Daily Telegraph zu lesen. Aus dem Englischen übersetzt von BERND PICKERT