Ein Woodstock für Hell’s Angels

„Gimme Shelter“ von Charlotte Zwerin und den Brüdern Maysles zeigt, wie die Hippie-Ära mit dem Desaster-Konzert der Stones in Altamont endete

Er markierte das Ende einer unschuldigen Zeit, dieser 6. Dezember 1969. Das endgültige Ende der Sechzigerjahre, des Sommers der Liebe und der Gegenkultur. Es war der Tag, an dem die Rolling Stones ihre eigenes Woodstock nachholen wollten in Form eines monströsen Gratiskonzerts auf dem Gelände des Altamont Speedway in den Bergen westlich von San Francisco. Ein kalter, windiger, aber strahlend schöner Tag. Die Stones waren der Hauptact bei diesem Festival, zu dem 300.000 Leute erwartet wurden und andere große Bands der Zeit auftraten: Jefferson Airplane, die Flying Burrito Brothers, Grateful Dead, Santana.

Doch anstatt vier Monate nach Woodstock ein weiteres Zeichen von Liebe, Frieden und Glückseligkeit zu setzen, endet das Festival in einem Desaster. Der 18-jährige Afroamerikaner Meredith Hunter wird während des Stones-Auftritts von einem der als Ordner verpflichteten Hell’s Angels erstochen. Direkt vor der Bühne, vielleicht sogar direkt vor den Augen von Mick Jagger und Bandkollegen. Ganz sicher aber vor den Kameras der Gebrüder Albert und David Maysles und Charlotte Zwerins, die in Altamont Aufnahmen machen für einen Film über die Rolling Stones, für „Gimme Shelter“.

„Stopp“, sagt Mick Jagger in dem Film, als er die Bilder sieht: die Hell’s Angels vor ihm im Zuschauerraum, Meredith Hunter in seinem hellgrünen Anzug, das Getümmel und Hin und Her. „Stopp“, sagt Jagger, „kannst du das noch mal zurückspulen?“ Und dieses Mal sieht man in Slowmotion, wie Hunter erstochen wird, wie eine lange, silberne Klinge gut sichtbar mehrmals auf ihn niedersaust. Es ist diese Szene, die dem Film 1970 in den Staaten den Vorwurf einbringt, ein mieser Snuff-Film zu sein; die auch jetzt, in der restaurierten und vollständigen Fassung und im Zusammenspiel mit den sonstigen, nicht gerade euphorisierenden Aufnahmen des Altamont-Festivals, Beklemmungen auslöst. Eine Szene, die seinerzeit eine heftige Diskussion über die Schuld und Unschuld von Bildern entfacht hat, über die Mitschuld des Films „Gimme Shelter“ und auch der Rolling Stones an den Ereignissen von Altamont. Es hieß sogar, das Festival hätte nur stattgefunden, damit dieser Film über die Stones und ihre Teilhabe am Sommer der Liebe entstehen könnte.

Gedacht war „Gimme Shelter“ natürlich nicht als bedrückendes Dokument einer Ära. Sondern nach Godards gebrochenem „One Plus One“, den die Stones nicht mochten, als richtiger Porträt- und Konzertfilm über die Stones, die sich zu der Zeit auf einer Mammut-Tour durch die USA befanden. Geblieben davon sind die Szenen im ersten Teil des Films: die Stones im Madison Square Garden, die Stones auf dem Weg in die Muscle-Shoals-Studios, in Hotelzimmern, auf Flughäfen und wieder im Madison Square Garden (toll übrigens auch, toll lasziv und haufenweise Gänsehaut erzeugend ein Auftritt von Tina Turner, die „I’ve been loving you too long“ singt, ganz großes Kino!).

Nach dem Mord an Hunter bildet dieser Anfang zusammen mit dem Festival Klammer und erzählerischen Rahmen von „Gimme Shelter“. Immer wieder montieren die Maysles und Zwerin Szenen, die zeigen, wie es dem Stones-Anwalt Mario Belli in letzter Minute gelingt, den Altamont Speedway zu buchen: Eigentlich soll das Festival im Golden Gate Park in San Francisco stattfinden, wird dort abgesagt und auf den Sears Point Raceway verlegt, wo es ebenfalls abgesagt wird. Innerhalb von 24 Stunden geht es dann nach Altamont, mitsamt der Bühnenkonstruktion. Chaos mit Methode sozusagen, was „Gimme Shelter“ auch abbildet: kilometerweise parkende Autos, eine schmale Zufahrtsstraße durch die Berge, eine sehr niedrige Bühne ohne Absperrungen, überall Menschen auf Verstärkern und Sendemasten, ein Schäferhund, der über die Bühne läuft. Die Stimmung ist nicht wirklich gut, das spürt man auch ohne das Wissen um die schrecklichen Bilder am Ende: Schlechte Drogen, genervte Gesichter, Entsetzen in the house und immer wieder die Hell’s Angels, die mit Stöcken auf Zuschauer einprügeln und später sogar auf Marty Balin, den Sänger von Jefferson Airplane, als dieser versucht, einen Streit im Publikum zu schlichten.

Schließlich der Auftritt der Stones am Abend; Mick Jagger, der Keith Richards anraunzt, aufzuhören mit dem Spielen; der das Publikum auffordert, cool zu bleiben, der, auch wenn er meist nur von hinten zu sehen ist, hilflos wirkt, der Sache nicht gewachsen. Der sich aber für die Show entscheidet, die weitergehen muss, und später nicht mehr sagen kann als ein hilfloses „Es ist schrecklich“. Am Ende werfen die Hell’s Angels Rosen auf die Bühne – Songs wie „Sympathy For The Devil“ und „Let It Bleed“ hatten sich als selbsterfüllende Prophezeiung erwiesen. GERRIT BARTELS

„Gimme Shelter“ (Director’s Cut), von David Maysles, Albert Maysles, Charlotte Zwerin, USA 1970/2000, 91 Min, im Balázs, Karl-Liebknecht-Straße 9, Mitte