Befindlichkeitsclowns

Beim Theaterfestival in Avignon waren deutsche Autoren schwer gefragt. Doch die Treue zu den historischen Vorlagen erwies sich oft als Haken

Müller, Bernhard, Strauß und Brecht: So viel Deutsches war nie in Avignon zu sehen

von JÜRGEN BERGER

Festivalbesucher geben sich gerne locker. Sitzt in einer Premiere von Botho Strauß’ „Pancomedia“ ein Mann in Shorts und mit einem Baguette über den gebräunten Schenkeln, dann ist man sicher auf einem französischen Theaterfestival. Da wird der Baguettemann auch nicht müde und will bis zum Ende der vierstündigen Inszenierung wissen, wie das mit der deutschen Jungautorin Sylvia Kessel und ihrem Kleinverleger Zacharias Werner, zwei der Figuren von Botho Strauß, weitergeht.

Wie das mit der Liebe und dem Literaturbetrieb heute so ist, hat Jean-Pierre Vincent mit Schülern der Schauspielschule Cannes inszeniert: ein Beispiel für die große Dichte an Inszenierungen deutschsprachiger Autoren auf der diesjährigen Leistungsschau des französischen Theaters in Avignon. Frankreichs Bühnen beschäftigen sich grundsätzlich mehr mit deutschen Stücken als umgekehrt, eine Ballung wie dieses Jahr hat es allerdings noch nie gegeben. Zu Beginn dominiert der Franzosen liebster Deutscher, Heiner Müller. Zum Ende hin wird es noch Thomas Bernhards „Minetti“ und George Taboris „Mein Kampf“ geben.

„Medeamaterial“ von Heiner Müller ist in der Inszenierung des russischen Regisseurs Anatoli Wassilijew via Moskau nach Avignon gekommen und wird dort in einer kleinen Kapelle gezeigt. Atemlos folgen die Zuschauer der Schauspielerin Valérie Dréville, die mit Wassilijew von Frankreich nach Moskau ging und jetzt zurückkehrte. Sie ist ein Medea-Medium par excellence und schafft es tatsächlich, jeden Satz des Textes, mit dem Müller der archaischen Gefühlswelt der Medea nachspürt, psychologisch zu grundieren. Jedes Wort fällt wie ein Axthieb, und der Müller-Text wird zur Splittergranate, mit der die verletzte Medea sich am Gatten Jason und der Welt rächt. So gelingt wider alles Erwarten psychologisch-realistisches Theater, unter Verzicht auf große Gesten.

Jean-Claude Fall, Leiter des Nationaltheaters in Montpellier, geht mit der Inszenierung des zweiten Müller-Textes einen völlig anderen Weg. Seine Idee würde in Deutschland für heftige Diskussionen sorgen. Er verwendet Müllers „Mauser“ aus dem Jahr 1970 wie einen Kommentar zur Bertolt Brechts „Die Maßnahme“ von 1930. Brechts Lehrstück über die Mittel der Revolution und ihre Verhältnismäßigkeit wurde von Hanns Eisler vertont und ist ein dialektisches Frage-und-Antwort-Spiel mit einem impulsiven Junggenossen, drei Agitatoren und einem Kontrollchor. In Deutschland wird das so gut wie nie und wenn, dann mit spitzen Fingern inszeniert. Das Lehrstück diene einer Stalinismusverherrlichung, heißt es. Angelastet wird Brecht, dass der junge Genosse in der „Maßnahme“ am Ende im Interesse des Kommunismus seiner Exekution zustimmt. In Deutschland haben Tom Kühnel und Robert Schuster das Lehrstück kürzlich unter dem Titel „Das Kontingent“ als Vorlage benutzt, um der Frage von Gehorsam und Gewissen im Falle eines Nato-Einsatzes nachzugehen. Jean-Claude Fall nun betreibt eine Brecht-Rekonstruktion und inszeniert das dialektische Spiel ungebrochen als große Eisler-Oper. Es sieht so aus, als setze er darauf, dass der folgende Kommentar mit Müllers „Mauser“ für sich spricht und als reflexive Ebene genügt.

Einzig das Bühnenbild schafft noch Distanz: Brechts Lehrstück spielt in einem riesigen, historischen Seminarraum, in den Bänken sitzt der Chor der Universität Montpellier als proletarische Masse und trägt dazu bei, dass das Brecht-Stück so gezeigt wird, wie es gedacht war – als szenisches Oratorium.

Im Übergang zu „Mauser“ gehen der Chor und das kleine Orchester still ab, auf dass es im jetzt leeren Seminarraum um die Dialektik des Neinsagens gehe. Müller stellt Brechts Frage nach dem Verhältnis von Menschlichkeit und Parteiräson noch einmal. Sein Delinquent sagt allerdings: „Ich nehme meinen Tod nicht an. Mein Leben gehört mir.“ Auch das lässt Jean-Claude Fall pur spielen, als gehe es ihm lediglich um die internen Bezüge der beiden Stücke. Vom Publikum erfordert das Gedankenarbeit, und es ist sehr überraschend, wie konzentriert es in Avignon bei der Sache bleibt.

Am anderen Ende der Festivalstadt dagegen, im Gymnasium Aubanel, haben sich die Reihen nach der Pause doch erheblich gelichtet. Das liegt an der überbordenden Fülle von heutigen Befindlichkeitsclowns und Paarversagern in Botho Strauß’ „Pancomedia“. Es liegt aber auch an Jean-Pierre Vincents Inszenierung mit den Schauspielschülern. Vincent, einer der renommierten französischen Regisseure und ehedem unter anderem Intendant des Straßburger Nationaltheaters, arbeitet seit einiger Zeit frei. Jetzt hat er sich die Freiheit genommen, das zentrale Paar der „Pancomedia“ wechselnd zu besetzen. Aus Gründen der Demokratie in der Schauspielschule mag das sinnvoll sein – für das Stück ist es schlecht. Der ungefähr dritte Kleinverleger zum Beispiel meint, überaus lautstark agieren zu müssen, und man ist einmal mehr mit einem Problem althergebrachter französischer Schauspielkunst konfrontiert: dem Missverständnis, Intensität sei nur mit schauspielerischen Mitteln an der Grenze zum Kitsch erreichbar. Der Grundstein dafür, das immerhin lernt man an diesem Abend, wird wahrscheinlich an französischen Schauspielschulen gelegt.

Am Ende fragt man sich, ob die Liebe der Franzosen zum deutschen Theater nicht auch eine zweischneidige Sache ist – ein Übungsplatz für museale Theaterformen.