Zur Freiheit durch Bauchtanz

Zwischen grauem Kittel und knappem Flitterkostüm: „Roter Satin“ von Raja Amari erzählt von Doppelleben und Emanzipation

Überraschung: Eine sinnlich inszenierte Emanzipationsstory – aus Tunesien

Eine Frau putzt: mechanisch, mit ausdrucklosem Gesicht. Alles ist schon blitzsauber und wird dennoch wieder und wieder gründlichst abgewischt. Es wirkt, als würde sie mehrmals am Tag so mit dem Putztuch durch ihre Wohnung gehen und die Leere ihres Lebens durch diese Arbeit ausfüllen wollen. Da hört sie zufällig aus einer Nachbarwohnung Musik und beginnt zögerlich, sich vor dem Spiegel zum Rhythmus zu bewegen.

Nach und nach steigert sie sich in den Tanz hinein, löst ihre Haare, lässt Bauch und Hüften kreisen und wird dabei vor unseren Augen lebendig. Für die Dauer eines Liedes, eines Tanzes, ist sie attraktiv, voller Leidenschaft, Sehnsucht und Lebenslust. Doch mit der Musik erlöscht auch sie wieder, steckt sich die Haare streng zurück und putzt weiter. Selten kommt ein Film gleich mit der ersten Einstellung so kompakt, ökonomisch und konkret auf den Punkt. Es kann in „Roter Satin“ nur um die Erweckung dieser Frau gehen.

Sie heisst Lilia, lebt in Tunis, ist Witwe, Mutter einer Tochter und arbeitet als Hausschneiderin. Die tunesische Regisseurin Raja Amari erzählt hier eine Geschichte, die den bei uns gängigen Klischees vom Leben der Frauen in der arabischen Welt völlig entgegenläuft. Da ist kein Kopftuch zu sehen. Lilia lebt zwar in einer prüden, streng reglementierten Welt, aber es gibt auch für sie Freiräume und Fluchtmöglichkeiten. Weil sie befürchtet, ihre Tochter Salma wäre auf Abwege geraten, sucht sie sie nachts auf den Straßen, kommt dabei zufällig in den Nachtclub „Satin Rouge“ und fühlt sich von der dort herrschenden aufregenden, lustvollen Atmosphäre angezogen. Langsam befreundet sie sich mit den Tänzerinnen, beginnt, von diesen ermutigt, selber vor den Männern mit den Hüften zu wiegen und entpuppt sich als großes Talent des Bauchtanzens. Bald lebt sie ein Doppelleben: am Tage die spießige Hausfrau im grauen Kittel, in der Nacht die verführerische Frau im knappen Kostüm mit Flitter und Pailletten. Die Nachbarin und ein streng religiöser Verwandter vom Lande drücken ihre Missbilligung aus, aber es kommt zu keiner hochdramatischen Verdammnis oder gar Bestrafung dieser sich befreienden Frau. Statt dessen mündet die Geschichte in eine doppelbödige Dreieckskomödie, denn der Freund der Tochter ist als Trommler im Nachtclub beschäftigt und erliegt schließlich den Reizen seiner zukünftigen Schwiegermutter.

Dass solch eine leichte, unaufgeregt und sinnlich inszenierte Emanzipationsgeschichte in Tunesien produziert werden konnte, ist eine absolute Überraschung. Die Regisseurin Raja Amari romantisiert nichts: die Welt der Nachtclubs und des Bauchtanzes ist alles andere als glamourös, eher halbseiden und ein wenig schäbig, aber dafür um so lebendiger und authentischer. Die Hauptdarstellerin Hiam Abbas entspricht auch überhaupt nicht dem westlichen Schönheitsideal, aber der Film lässt sie so bei ihren Tänzen aufblühen, dass man dennoch von ihr verzaubert wird. Ein schöner, lebensbejahender Film der von einer Emanzipation durch Bauchtanz erzählt.

Wilfried Hippen

„Roter Satin“ läuft täglich um 20.45 im Cinema in der Originalfassung mit Untertiteln