Ende eines Höhenflugs

Die Gruppe Attc wurde erst durch Genua richtig bekannt. Doch dann entdeckte man die Gesundheitspolitik

Dann kam der 11. September, und mit der Attac-Euphorie war erst mal Schluss

von KATHARINA KOUFEN
und ULRIKE WINKELMANN

Der Spiegel ist gewiss keine Dritte-Welt-Broschüre, doch am 23. Juli 2001 titelte er mit dem kritischen Slogan: „Wem gehört die Welt?“ Es war der Montag nach dem G-8-Gipfel von Genua. Es war der Montag nach einem Wochenende, an dem mehr als 150.000 Menschen gegen die neoliberale Globalisierung demonstriert hatten, an dem ein Demonstrant von einem Polizisten erschossen wurde. Es war der Beginn eines Sommers, in dem das Attac-Bündnis seinen großen Auftritt hatte. Attac-Mitglieder wurden in den Tageszeitungen zitiert, in Fernsehstudios geladen, morgens im Deutschlandfunk interviewt.

Das globalisierungskritische Bündnis (man legt Wert darauf, nicht als Globalisierungsgegner bezeichnet zu werden) Attac erlangte mit Genua den Höhepunkt seiner medialen Präsenz – und dadurch Gehör bei Politikern. Die Attac-Sprecher Felix Kolb und Sven Giegold waren hoffähig geworden. Der Kanzler lud eine Delegation nach Berlin ein. Daniel Cohn-Bendit mahnte die Grünen, sich auch endlich des Themas anzunehmen. Die hatten die Probleme der Globalisierung bis dahin entweder verschlafen oder verschwiegen – wohl wissend, dass Attac auch ein Auffangbecken für frustrierte Exgrüne und Grünenwähler ist.

Genua polarisierte, mit Genua rückte die Regierung in Rom auf die Seite der Bösen, die Globalisierungskritiker rückten auf die Seite der Guten. Das brachte Attac Sympathie und Mitglieder. Mitte Juli waren es 472, Mitte August schon 850. Mittlerweile sind es mehr als 7.000. So wie Tesa für Klebeband steht Attac seitdem für Globalisierungskritik, zumal in Deutschland.

Doch dann kam der 11. September, und mit der Attac-Euphorie war es mit einem Mal vorbei. Die Themen Terrorismus und innere Sicherheit verdrängten alles andere. Viele Attac-Leute waren spontan verunsichert: „Wir müssen uns distanzieren“, schrieben besorgte Mitarbeiter in den E-Mail-Verteiler. Bestanden nicht, zumindest rhetorisch, Überschneidungen mit den Terrorgruppen? Zum Beispiel bei der Kritik an der weltweiten Vorherrschaft der USA?

Schlimmer noch: Nach dem 11. September wurde die Globalisierungskritik fast schon zum Gemeinplatz. Mahnen doch seitdem auch CDU-Chefin Angela Merkel, Bundespräsident Johannes Rau (SPD), ja auch Unions-Fraktionschef Friedrich Merz, dass eine Weltwirtschaft so ganz ohne Gerechtigkeit und Umverteilung nichts Gutes sei. Und dass Terror eine Folge dieser ungerechten Globalisierung sein könne.

Ähnlich populär ist mittlerweile die Kritik am Börsenkapitalismus à la USA. Glaubten noch vor zwei Jahren auch kleine Angestellte an den Segen des Aktienbooms, überwiegt nun die Skepsis. Selbst US-Präsident George W. Bush prangerte kürzlich die fehlende Moral großer Unternehmer an – was bleibt da für Attac noch zu sagen? Die Fronten zwischen den Profiteuren des Kapitalismus auf der einen Seite und den Warnern und Weltverbesseren auf der anderen verschwimmen.

Gleichzeitig veränderte der 11. September auch die Agenda von Attac. Der Afghanistankrieg verlangte eine klare Positionierung. Attac entschloss sich, Militäreinsätze kategorisch abzulehnen, und verbündete sich mit der Friedensbewegung. Die Forderung, mit der Attac und viele andere globalisierungskritische Gruppen ursprünglich angetreten waren, nämlich die nach einer Tobin-Steuer zur Regulierung der Finanzmärkte, wurde zu einem Thema unter vielen.

Attac Deutschland muss jetzt nicht nur Kriegs- und Friedenspolitik machen, sondern hat sich selbst auch ganz neue Herausforderungen gesucht: Ausgerechnet Gesundheitspolitik wurde das Hauptthema dieses Wahlkampfjahres, was einer mutwilligen Verzettelung gleichkommt und die meisten Mitglieder überfordert. Die Mobilisierung zum ersten großen Gesundheits-Aktionstag Mitte Juni blieb so denn auch bescheiden – die Medien berichteten über die Veranstaltungen des Seniorpartners der Demonstration, der Gewerkschaften, nicht aber über den Attac-Anteil. Was aus dem Aktionstag eine Woche vor der Wahl, am 14. September in Köln, wird, wo die Jugendorganisationen der Gewerkschaften gemeinsam mit Attac den Erhalt des solidarischen Gesundheitssystems einfordern wollen, bleibt abzuwarten.

Jetzt schon jedoch ist klar, dass es nicht, wie von vielen befürchtet, die Allianz mit den Gewerkschaften ist, die Attac den Charme raubt. Denn diese passen auf, dass sie die wilde Pfllanze der Bewegung eben gerade nicht mit ihrem Apparat tothauen. Ursache ist vielmehr das geradezu protestantische Pflichtbewusstsein, mit dem Attac sich den Verästelungen des deutschen Sozialstaats widmet. Umverteilung in der deutschen Sozialpolitik ist im Übrigen allein schon deshalb schwieriger als die weltweite Umverteilung von Spekulationsgewinnen, weil man es hierzulande mit einem Haufen Sozialpolitiker zu tun bekommt, die erstens alles schon wissen und zweitens auch alle für den Erhalt des Bismarck’schen Solidarmodells sind. Es gibt in diesem Terrain wenig Abgrenzungsmöglichkeiten.

Nun wäre es allerdings ganz falsch, zu verlangen, Attac dürfe sich nicht mit den Niederungen der Realpolitik oder der realen Politik befassen. Das macht nun gerade den Erfolg von Attac aus: Dass es einen Kern von Mitgliedern gibt, die binnen Minuten auf jede politische Regung zu reagieren imstande sind. Kaum hat Johannes Rau seine Rede beendet, plingt auch schon die Attac-Stellungnahme in die Mailboxen unzähliger Redakteure: „Mit Freude nehmen wir zur Kenntnis … und weisen darauf hin, dass wir das zuerst gesagt haben.“

Diese Pressearbeit „professionell“ zu nennen wäre untertrieben: Sie erzeugt den Eindruck, dass Attac immer am Ball ist – und unterscheidet Attac von den Gruppen, die aus der Globalisierungskritik eigentlich erst in den Neunzigerjahren eine Bewegung gemacht haben, etwa das People’s Global Action Netzwerk und die vielen anderen Angehörigen des „Volks von Seattle“.

Ob Attac künftig eher auf spektakulären Demonstrationen oder auf dem Gewerkschaftstag in der großen Aula Schlagzeilen machen wird, bleibt abzuwarten. Die Massenmobilisierung zum G-8-Gipfel von Genua heute vor einem Jahr jedenfalls ist bisher unübertroffen.