Es geht nicht um Kaliningrad

Russland hat wenig getan, um die Reisemöglichkeiten aus der Exklave zu verbessern. Der Streit mit der EU dient dazu, die Putin-Gegner zu beruhigen

aus Kaliningrad GABRIELE LESSER

Mit der Osterweiterung werden Anfang 2004 nicht nur Polen, Litauen, Lettland und Estland Mitglied der EU. Auch ein Teil Russlands wird sich plötzlich inmitten der Union wiederfinden: das Gebiet Kaliningrad, die Exklave Russlands zwischen Polen, Litauen und der Ostsee. Doch während die Polen und die Balten wahrscheinlich ab 2006 ohne Grenzkontrollen durch ganz „Schengenland“ reisen können, gehen für die Kaliningrader erst einmal die Schlagbäume runter. Sollte sich Brüssel durchsetzten, könnte ihnen ohne Transitvisum die Fahrt ins russische „Mutterland“ verwehrt werden. Bislang reichte ein Personalausweis aus.

Empört über die „Abschottung“ ist nicht nur der Gouverneur des Kaliningrader Gebiets, Wladimir Jegorow, empört ist auch Russlands Präsident Wladimir Putin. Seit Anfang des Jahres hat sich der Konflikt verschärft. Der Moskauer Forderung nach einem visafreien Reiseverkehr von Russen durch Polen und Litauen folgten jene nach „verplombten Zügen“ und „bewachten Transitstrecken“ für Pkws und Lastwagen.

In Brüssel, wo man durchaus bereit ist, dem Gebiet Kaliningrad mit vielen Millionen Euro unter die Arme zu greifen, und sich auch ein erleichtertes Visaregime vorstellen kann, führten die schrillen Töne aus Moskau zu einer gewissen Gereiztheit. So etwa, wenn sich der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der russischen Staatsduma, Dimitri Rogosin, auf die europäische Konvention der Menscherechte beruft und fordert: „Bürger eines freien Landes sollten jederzeit die Möglichkeit der Freizügigkeit auf dem eigenen Gebiet haben.“ Denn dann muss er sich nicht nur fragen lassen, was genau er denn unter „eigenem Gebiet“ versteht, sondern auch, warum Moskau bislang nichts getan hat, um die auch weiterhin visafreien Reisemöglichkeiten zwischen Kaliningrad und dem russischen Mutterland auszubauen: den Hafen von Baltijsk (Pillau), von dem aus Fähren den Hafen in Petersburg ansteuern können, und die Flugverbindungen von und nach Kaliningrad. Und: Obwohl sich seit Jahren abzeichnet, dass die Nachbarn Kaliningrads wohl kaum darum herumkommen, die Viasapflicht einzuführen, haben nur 230.000 von rund einer Million Einwohnern des Gebiets Kaliningrad einen Reisepass, in den der Sichtvermerk gestempelt werden kann.

Vor einigen Tagen hat Putin den im Westen als Hardliner bekannten Rogosin zum neuen Kaliningrad-Beauftragen ernannt, zugleich aber in versöhnlichem Ton angekündigt: „Es ist möglich, die Positionen aufeinander abzustimmen und eine Lösung im Kompromiss zu finden.“ Auch Rogosin ist plötzlich zu „einem vernünftigen Kompromiss bereit“. Bis September will er mit einer Expertengruppe die Stellungnahme der russischen Regierung zu den Vorschlägen der EU ausarbeiten.

Die scharfe antieuropäische Rhetorik sollte vor allem diejenigen in Russland beruhigen, die die proeuropäische Richtung Putins für eine falsche halten. Doch der russische Präsident wird die Beziehungen zur EU weder mittel- noch langfristig aufs Spiel setzen wollen – allein wegen der Transitfrage von und nach Kaliningrad. Schließlich wird die Union ein immer wichtigerer wirtschaftlicher Handelspartner.

Innenpolitisch macht sich die bislang kompromisslose Haltung Putins jedoch in jedem Fall bezahlt, unabhängig davon, wie der Streit ausgeht. Wenn die EU im einen oder anderen Punkt nachgibt, kann das in jedem Fall als persönlicher Gewinn für den Präsidenten verbucht werden. Und geht es ohne Zugeständnis an Russland aus, kann Putin nach der Einführung der Visapflicht die ganze Schuld an der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung im Gebiet Kaliningrad auf die EU abwälzen.

Je länger die Diskussion andauert, um so klarer wird, wie unsinnig einige Forderungen Moskaus sind. So haben sich die Polen über die Forderung nach einem „Korridor“ aufgeregt, obwohl es gar keine Transitstrecke zwischen Russland und Kaliningrad gibt, die durch Polen führen würde. Polen wird daher auch keine Transitvisa ausstellen, sondern ganz normale Reisevisa.

Als EU-Vertreter andeuteten, dass sie sogar bereit wären, Russlands Forderung nach einem verplombten Zug durch Litauen zuzustimmen, und dass die EU die entsprechende Bahnstrecke bauen würde, machte Moskau plötzlich einen Rückzieher. Die Vorstellung, dass Russen demnächst tatsächlich in verplombten Zügen durchs Nachbarland rollen würden, ist denn doch zu grotesk.