Die Umfahrung als Wahlkampfhit

Opposition und Regierung versprechen verkehrsgeplagten Bürgern, Innenstädte und Dörfer von Blechlawinen zu befreien. Doch unter Fachleuten ist der Nutzen von Ortsumfahrungen höchst umstritten

BERLIN taz ■ „Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten.“ Der Spruch des ehemaligen Volvo-Chefs Pehr Gyllenhammar ist fünfzehn Jahre alt, seine Aussage bleibt aktuell. Das Bundesverkehrministerium will bis in zehn Jahren 300 neue Umfahrungsstraßen entstehen lassen. Opposition und Regierung versprechen in ihren Wahlprogrammen, Innenstädte und Dörfer von den Blechlawinen zu befreien.

Ist eine Umfahrung aber erst einmal gebaut, folgt oft die große Ernüchterung: Die Anwohner müssen enttäuscht feststellen, dass der Lärm nicht abgenommen hat und die Brummis nicht verschwunden sind. „Halbiert sich der Verkehr auf der Ortsdurchfahrt, sinkt der Lärmpegel nicht etwa um die Hälfte, sondern nur um marginale drei Dezibel – eine Reduzierung, die das menschliche Ohr kaum wahrnimmt“, sagt der Kasseler Verkehrswissenschaftler Helmut Holzapfel.

Aber selbst der Verkehr halbiert sich nur in den wenigsten Fällen. In Nordrhein-Westfalen scheiterte der Versuch, Kriterien für Umgehungsstraßen gesetzlich festzulegen. Eine Straße sollte sich nur dann Umfahrung nennen dürfen, wenn der Verkehr auf der bestehenden Ortsdurchfahrt um die Hälfte abnimmt. Neun von zehn untersuchten Umfahrungen erfüllten dieses Kriterium nicht.

Holzapfel kennt die Problematik: „Nach dem Bau der Umfahrung merkt man, dass der böse holländische Lkw zum eigenen Supermarkt fährt.“ Wie die Studie aus NRW zeigte, zählt nur eine Minderheit der Autos zum Durchgangsverkehr. Der innerörtliche Binnenverkehr hat zugenommen: Jede dritte Pkw-Fahrt ist bereits nach weniger als fünf Kilometern zu Ende. Zwar reduziert eine Umgehung innerorts die Zahl der Staus, was den Ausstoß von Kohlenmonoxid vermindert. Doch die erhöhten Geschwindigkeiten auf den Umfahrungsstraßen führen zu mehr Stickoxidemissionen. „Die Belastungen gleichen sich etwa aus“, so Holzapfel.

Warum werden dann überhaupt noch Umgehungen gebaut? Der Verkehrsexperte Holzapfel meint: Weil die Gemeinden an die Bundesmittel für Lärmschutz kommen wollen, die es nach der jetzigen Gesetzeslage nur für Neubauten, aber nicht für bestehende Straßen gibt. Der Verkehrsexperte ist aber nicht grundsätzlich gegen Umgehungen: „Es gibt einfach keine Generallösung.“ Nicht einmal der Bund für Umwelt und Naturschutz bestreitet den Entlastungseffekt für Ortschaften, die vom Transitverkehr gequält werden. Doch die Ursachen der Verkehrsinfarkts müssten endlich angepackt werden. Investitionen sollten künftig in lärmfreie Autos und in den öffentlichen Verkehr fließen.

Nicht einmal der Automobilclub ADAC will ein Generalurteil zugunsten der Umfahrungen fällen – aber er glaubt nicht, dass die Probleme durch Investitionen in den öffentlichen Verkehr gelöst werden können. „Es ist doch nicht möglich, quer übers Land ein flächendeckendes ÖV-Netz zu bauen“, heißt es aus der ADAC-Pressestelle.

Die Parteien stellen sich ohnehin mit großer Rhetorik hinter die Wundermedizin Umfahrungsstraße. Es ist eben nicht opportun, den verkehrsgeplagten Wähler mit den Gegenargumenten zu behelligen. Verkehrsexperte Holzapfel meint dazu: „Man sollte nicht dem ‚Blabla‘ der Parteien glauben, sondern endlich sachliche Lösungen angehen.“

SIMON JÄGGI