Melancholische Gründerzeit

Die Nachbeben der Diktatur: Der chilenische Regisseur Ricardo Larraín erzählt in seinem neuen Film „El Entusiasmo“, wie eine Kleinfamilie in der Wüste Nordchiles den Tourismus ankurbelt: Mit der Inszenierung eines Arbeiteraufstands, inklusive Internationale, Fackeln und Grubenlampen

Der Enthusiasmus ist in Zeiten des Neoliberalismus eine eher zynische Tugend. Für den jetzt herrschenden Liberalismus in Chile hat das Regime von Pinochet den Weg bereitet. Der 11. September steht dort vor allem für das Jahr 1973, als mit US-amerikanischer Unterstützung die Demokratie abgeschafft wurde. Nach dem Ende der Diktatur erlebt das chilenische Kino nun einen Boom, den der Regisseur Ricardo Larraín 1991 mit seinem Film „La Frontera“ einleitete. Letztes Jahr waren auf dem Filmfestival in Havanna mehr chilenische Filme zu sehen als in den langen Jahren der Diktatur insgesamt. Larraíns neuer Film „El Entusiasmo“ tritt an, das Nachbeben der Diktatur nachzuzeichnen und die Schmerzen der Übergangsgesellschaft in die Welt zweier Männer, einer Frau und eines Kindes zu übertragen.

Anfang der Achtzigerjahre während der Diktatur, im Grenzgebiet zu Peru: Der junge Chilene Guillermo lernt beim paramilitärischen Schultraining Fernando kennen, der ihn vor den Belästigungen der anderen Schulkameraden schützt. Sie desertieren zusammen, zitieren Pablo Nerudas „Canto General“, träumen von einer unabhängigen Republik und treffen auf die junge Isabel, die sich der draufgängerische Fernando schnappt, so dass bald eine kleine Kleinfamilie entsteht. Nach dem Ende der Diktatur begegnen sich die drei wieder. Fernando, der versucht, im Norden Chiles, in dem großen, kargen Wüstengebiet, den Tourismus anzukurbeln, ist mit ungebremster Gründerbegeisterung schnell dabei, alle für sich zu funktionalisieren. Seine schöne junge Frau darf für die Touristen Latina-Flair verbreiten.

Die Ruinen einer Schwefelmine dienen als Schauplatz für die fulminante themenparkartige Son-et-Lumière-Inszenierung eines Arbeiteraufstands, mit Internationale, Fackeln und Grubenlampen. Es ist ein Mitmachspektakel. Die Touristen können sich in Che-Guevara-T-Shirts als Rebellen fühlen. Schnell tauchen Investoren auf, großspurig und undurchschaubar, und nun soll mitten in der Wüste die Republik der Freiheit als privatisierte Gated Community entstehen. Fernando ist der richtige Mann dafür, Isabel und der kleine Miguel ziehen in einen Wohnwagen mitten im Bauland. Für Regisseur Larrain spiegelt diese Haltung ein Phänomen aus der Zeit der Diktatur: „Hier gibt es nichts, hier werden wir etwas Großes konstruieren. Auch wenn es mitten in der Wüste ist. Wie es uns gefällt.“

Guillermo mit seiner Medienerfahrung – er hatte während der Diktatur als Fotograf auf die Gräuel des Regimes aufmerksam gemacht – dreht für Fernando Promovideos: „Ich filme die Leere der Landschaft, und die Gringos füllen sie am Computer auf.“ Isabel führt die potenziellen Geldgeber herum, das Kind darf baggerfahren und der überdrehte Ehemann und Manager verschwindet mit dem Hubschrauber auf Dauer-Geschäftsreise. Man könne graben, wo man wolle – überall stößt man auf Leichen, sagt ein Bauarbeiter.

Wichtige Figur ist der Melancholiker Guillermo, der bemerkt, wie sehr die von ihm im Stillen geliebte Isabel von ihrem Mann dressiert wird, und der versucht, dem kleinen Miguel aus der Bodenlosigkeit zu helfen. Hilflos geht er mit der neuen Situation Chiles um, damit, wie sie sich in den Seelen niederschlägt und brachial die Verhältnisse verzerrt: „Während der Diktatur warst du eine Art Held, jetzt ist es so, als ob dich die Demokratie aus dem Geschäft geschmissen hätte“, sagt Fernando zu Guillermo – schonungslos und sarkastisch, zugleich hellsichtig genug, um zu bemerken, wie wenig marktgerecht Engagement ist.

MADELEINE BERNSTORFF

„El Entusiasmo“. Regie: Ricardo Larraín. Mit Maribel Verdú, Álvaro Escobar u. a. Chile/Spanien/Frankreich 1999, 108 Min., tgl. 20 Uhr/ 22.30 Uhr, Eiszeit, Zeughofstr. 20, Kreuzberg