Leben im Widerspruch

Wurde das Auto für Kalifornien erfunden oder Kalifornien für das Auto? Die amerikanische Antwort heißt: Ja, klar!

von PETER UNFRIED

Der erste kalifornische Stau ereilte uns unmittelbar nach Verlassen des Flughafengeländes. Auf der 101 von San Francisco die Bay Area runter Richtung San José war Stop and go. Alles voller Autos. Das heißt: Nicht ganz. Die linke Spur war leer.

Hä? Ein Schild klärte auf: „Car Pool only“. Während der Rushhour dürfen dort nur Autos fahren, in denen (im Fall der 101) mehr als ein Mensch sitzt. Woraus folgte: Außer unsrem waren an diesem Abend also weit und breit nur Fahrzeuge unterwegs, in denen nicht mehr als ein Mensch saß.

Die Frage ist eigentlich nur, ob man das Auto für Kalifornien erfunden hat – oder Kalifornien für das Auto. Letzteres ist vielleicht etwas übertrieben, aber: Zumindest hat der Mensch God’s own supercountry redesignt für das Auto. Zum Beispiel indem die Automobilindustrie Schienenverkehr aufgekauft – und stillgelegt hat. Das Ziel war: Man sollte nicht ohne Auto auskommen. Das Ziel ist erreicht. Normale Menschen mit normalen Einkommen haben zwei Autos. Mindestens.

„Wo habt ihr denn euer Auto?“, fragte unlängst ein Freund, als wir nach einem Barbecue in seinem Garten den Gehsteig ansteuerten. „Ihr wollt doch nicht etwa“ – hier fing er an, hysterisch zu lachen – „nach Hause laufen?“ Hahaha. Das war aber mal ein Witz. Die Antwort musste sein: Natürlich nicht, denn das wären ja zu Fuß fast fünf Minuten.

Es ist nur so: Wir hatten nicht nur kein Auto dabei – wir haben keins.

Es bedurfte einiger Überzeugungsarbeit. Ob er uns nach so einem Geständnis noch mal einlädt, ist offen. Ohne Auto sind wir – da wir nachweislich keine Studierenden sind – Teil des untersten Teils der Unterschicht von Santa Cruz, das sind die in jeder Beziehung armen Menschen, die – Bus fahren. Mit anderen zusammen!

Santa Cruz ist eine Unistadt am Meer mit fünfzigtausend Einwohnern. Mit einem echten Stadtzentrum und einem funktionierenden Bussystem (das ist nicht die Regel). Im Prinzip kommt man zumindest in der Stadt überall gut hin. Das verdanken wir, wie auch das Off-Kino, die schönen Cafés und die bushkritische Stimmung, der Existenz der Universität von Kalifornien in Santa Cruz. Es gibt allerdings keinen Schienenverkehr (von einer Touristenbahn abgesehen). Nach San José (dreißig Meilen) kommt man gut mit Bussen. Die Fahrt nach San Francisco (75 Meilen) ist schon nicht mehr so einfach.

Der Greyhound ist die einzige direkte Verbindung und fährt nur einmal am Tag. Aber vermutlich war der einzige Fahrgast in den letzten sechs Monaten ein Freund aus Berlin. Sonst hat hier noch nie jemand das Wort „Greyhound“ ausgesprochen.

Kalifornien hat nicht nur Politiker wie Richard Nixon und Ronald Reagan produziert, es produziert auch den meisten Müll aller US-Staaten. Besonders führend in dieser Hinsicht ist unser Nachbar Jay. Wir teilen uns die Mülltonnen. Theoretisch. Meistens hat Jay sie schon am Tag nach dem Leeren wieder voll gestopft. Mit den Verpackungen von dem Zeug, das er gerade wieder neu angeschleppt hat. Mit dem Zeug, das er grade ersetzt hat.

„Amerika kommt nicht mehr nach mit dem Wegschaffen von Zeug“, sagte mir neulich John. Er ist Manager bei Goodwill Industries und muss es wissen. Goodwill sammelt die ganzen alten Sofas, Kleider, Bücher, Fernseher und so weiter ein, die durch neue ersetzt worden sind – und verkauft sie an Leute, die so wenig Geld haben, dass sie selbst der Modergestank in den Läden nicht abschrecken kann.

Eine wunderbare Art des Recycelns? Ja. Aber verkauft wird nur ein Bruchteil. Das meiste wirft auch Goodwill weg.

In Santa Cruz hat man drei Mülltonnen. Normaler Müll. Papier/Glas und Plastik. Biomüll. Wir Kalifornier sind nämlich auch offiziell führender Staat im Recyceln. Flaschen, Aluminum und so weiter kann man auch in Recyclingcentern zurückgeben. Der „California Cash Refund“ zahlt einem Geld dafür (zurück, man hat es beim Einkauf vorgestreckt).

Wenn man Glück hat und die gut versteckten Rückgabestellen gefunden hat, und sie sind auch noch offen, dann kann man dort einen riesigen Sack gegen einen winzig kleinen Scheck tauschen. Sagen wir über 0,27 Cent. Flaschen zurückbringen ist kein Thema. Niemand gibt seine Flaschen zurück.

Grade ist Jay mit einem neuen Auto auf den Hof gefahren. Natürlich einem SUV. Sports Utility Vehicle. Eine Mischung aus Pick-up und Kombi. So was braucht man, wenn man mit seinen Söhnen in die Wüste zum Motorradfahren fährt. Oder wenn man Kinder hat. Sich um ihre Sicherheit sorgt. Zeug hin- und herfahren muss. Das behauptet jedenfalls die Werbung für SUVs. „Natürlich brauche ich so ein Auto nicht“, sagt Jay, „natürlich bin ich blöd.“ Er liebt seinen SUV. Er holt damit jetzt abends die Pizza. Früher nahm er dafür immer seinen Pick-up.

Natürlich gibt es auch ein paar Leute, die mit einem Hybridauto rumfahren, das mit Benzin, aber auch mit Elektrizität betrieben wird. Etwa einem Toyota Prius. Aber diese Autos sind natürlich teuer. Und viel zu klein. Für den Preis kriegt man den schönsten SUV. Etwa fünfzig Prozent der neu zugelassenen Autos in Kalifornien sind SUVs, Minivans oder Pick-up-Trucks. Warum?

Die Autoindustrie sagt, wir Kalifornier wollen das so. Jay sagt, er würde nie einen VW Passat fahren. Viel zu klein. Auch fast alle unserer deutschen Bekannten hier fahren SUVs. Wegen der Kinder. Wegen des ganzen Zeugs. Weil man das hier so macht. „Do as the Romans do“, sagen sie. (Aber die deutsche Wurst schmuggeln sie trotz strengsten Einfuhrverbots durch den Zoll. Und die Wäsche nehmen sie mit nach Deutschland, „damit sie mal wieder richtig sauber wird!“.)

Benzin ist kein Thema. Eine Gallone (3,78 Liter) kostet derzeit zwischen 1,50 und 1,80 Dollar. Damit kommt ein Pick-up oder SUV, wenn man ihn vorsichtig fährt, schon mal 15 Meilen weit. Also etwa 24 Kilometer. „Das ist nicht viel“, sagt Jay. Ist aber egal. Bei dem Preis. Wasser ist auch kein Thema. Unser Klo tropft. Wie so vieles hier. Das finden wir nicht gut. Andererseits ist unser Eifer, das Tropfen abzustellen, gering. Nach Wochen informieren wir Jay. Er will es reparieren. Demnächst. Wasser kostet praktisch auch nichts.

Mit der grade verabschiedeten Bill „AB 1493“ soll der CO2-Ausstoß von „in Kalifornien verkauften Autos“ reduziert werden. Ab 2009. Darauf ist Kalifornien stolz. Einerseits. Wir sind der führende Ökostaat der USA, gehen mal wieder voran und stellen uns „der größten Umweltbedrohung des neuen Jahrhunderts“. Sagt Gouverneur Gray Davis. Während der Präsident und die anderen in Washington weder das Kioto-Protokoll unterschreiben noch sich einen Dreck darum scheren und sich sowieso von Detroit haben kaufen lassen, machen wir Druck auf die Autoindustrie, sich gefälligst schleunigst etwas zu überlegen, um umweltfreundlichere Autos produzieren zu können. Hm. Andererseits sind wir verstimmt: Letztlich wollen uns irgendwelche Provinzpolitiker in Sacramento vorschreiben, was wir für Autos zu fahren haben!

Weniger CO2-Ausstoß geht nur mit weniger Benzinverbrauch. Die Autoindustrie hat versucht, mit Hilfe einer Millionen Dollar teuren Werbekampagne das Gesetz zu verhindern. Dabei wurde an die tiefste Urangst des Amerikaners beziehungsweise Kaliforniers gerührt. Man bedroht unsere Freiheit. Man will uns zwingen, kleinere Autos zu fahren. Das aber ist, so hat es Joséphine Cooper gesagt, die Präsidentin der Allianz der Autohersteller: „un-amerikanisch“. Jay erinnert sich noch mit Schaudern an die Zeit, als sich die Kalifornier plötzlich alle kleinere Autos kauften. Das war, als das Benzin plötzlich richtig teuer war.

Natürlich ist Kalifornien nicht überall schön. Im Central Valley zum Beispiel, zwischen Fresno und Bakersfield, weht zu allem anderen auch noch die verschmutzte Luft aus der Bay Area rüber. Deshalb sind dort drei der vier schlimmsten Smog-Areas der USA. Die Gegend ist inoffizielle „Kinderasthma“-Metropole der Welt. Aber wenn man sich den richtigen Teil ausgesucht hat, ist Kalifornien ein wirklich schönes Land. Es kommt tatsächlich vor, dass man im Alltag irgendwo geht, steht oder fährt – und denkt: Ist das schön!

Unlängst hat die Pulitzerpreisträgerin Jane Smiley geschrieben, der „kalifornische Traum“ drehe sich nicht um Materialismus, der Luxus des Lebens in Kalifornien bestehe in der Schönheit und Besonderheit des Landes. Das bezahle man mit einem einfacheren Leben, als es ökonomisch Gleichgestellte in anderen Staaten haben. Weil hier alles erheblich teurer sei. Egal, sagt Smiley: „Kalifornien ist es wert.“

Auch wenn ich täglich erlebe, dass die Lebensqualität hier sehr vom Einkommen bestimmt wird: Smileys Sicht der Dinge hat etwas. Aber sie ist elitär und natürlich überhaupt nicht repräsentativ. Es gibt so wenig einen kalifornischen Traum, wie es einen Kalifornier gibt. Die Automanager argwöhnen, dass die Leute hier „mit dem Umarmen von Bäumen“ (New York Times) beschäftigt seien. Klar ist die College-Town Davis die Welthauptstadt des Fahrrads. Aber Kalifornien ist auch der größte Automarkt der USA.

Klar mag es in Nordkalifornien noch ein paar „linke Hippies“ geben, die im Wald von selbst angebauten Gräsern leben und Thoreau und Kerouac lesen. Aber ein beträchtlicher Anteil der Bevölkerung wählt nicht, liest nicht und ist auch nicht berühmt für sein Umweltbewusstsein. Klar gibt es einen Grünen, der sich um das Amt des Gouverneurs bewirbt. Aber er ist alt, und seine Wahlveranstaltungen finden in Wohnzimmern statt. Klar laufen in Santa Cruz viele Leute mit eigenen Kaffeebechern rum. Die Becher sind aus Aluminium und absurd groß. (Das müssen sie sein, weil man hier absurde Mengen Kaffee trinken muss.)

Mit einem Alubecher kann ein starker, mobiler Kaffeetrinker bestimmt dreihundert bis fünfhundert Plastikbecher im Jahr einsparen. Sehr gut. Aber das ist nichts gegen die Becher und Becherdeckel und Becherhalter und so weiter, die täglich weggeschmissen werden. Das heißt: Man muss hier mit den Widersprüchen leben lernen. Und, ehrlich gesagt: Es geht ziemlich gut.

Auch die Carpool-Lanes sind natürlich höchst umstritten. Erfunden von „Liberalen“, verstoßen sie gegen ein Grundrecht des Amerikaners, die „freie Wahl der Fahrspur“. Das stand jedenfalls unlängst in einem Leserbrief der San José Mercury News.

Manchmal, wenn Smogalarm ist, ruft die Umweltbehörde uns auf, ausnahmsweise dieses größte Abenteuer der Menschheit zu bestehen – und bei anderen im Auto mitzufahren. Aber wir Kalifornier tun es selbst am „Spare the Air Day“ nicht.

PETER UNFRIED, 38, stellvertretender Chefredakteur der taz im Erziehungsurlaub, lebt seit März dieses Jahres mit Ute (33), Paulina (3) und Kalle (1) in Santa Cruz, Kalifornien