Bin ich hier richtig?

Nachhaltigkeit heißt Gerechtigkeit üben gegen andere: gegen das Land im Süden, gegen die nächste Generation und – vielleicht – das benachteiligte Geschlecht. Den Weg weist das „Gender-Mainstreaming“

von HEIDE OESTREICH

Damals, in Rio beim Weltgipfel vor zehn Jahren, tanzten sie noch um Fruchtbarkeitssymbole und opferten der Meeresgöttin. Ihr Forum hielten sie in einem Zelt ab, das „Planeta Femea“ hieß. Die Frauen beim Erdgipfel waren offensichtlich bewegt vom Ökofeminismus. Sie verkündeten, sie – und nur sie – könnten „die Wunden von Mutter Erde heilen“.

In Johannesburg wird alles anders sein. Mond- oder andere Rituale sind nicht vorgesehen. Nüchternheit ist eingekehrt: An den Frauen wird die Welt nicht genesen – schon gar nicht, solange sie ohnehin nichts zu sagen haben. Auch diese Ahnung keimte bereits in Rio auf. In der Agenda 21, die in Rio beschlossen wurde, hielt man fest, dass Frauen an umweltpolitischen Entscheidungen beteiligt und die Auswirkungen dieser Maßnahmen auf Frauen bedacht werden sollten. Immerhin machen viele von ihnen mit Ressourcen und deren Management andere Erfahrungen als Männer. Eine Schwangere interessiert sich eventuell stärker für gute Lebensmittel oder sauberes Wasser als ein Kantinenbesucher. Auch wird sie einen anderen Blick auf Schadstoffgrenzwerte werfen. Diese Interessen sollten eingebracht und genutzt werden, stellten die Damen sich vor. Sie machten einen Schritt von der Frauenmythologie zur Demokratietheorie.

Damit formulierten sie, was kurze Zeit später unter dem Titel „Gender-Mainstreaming“ die internationale Frauenszene erobern sollte: Die Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 hatte resümiert, dass all die Frauenförderversprechungen der Regierungen kaum reale Veränderungen brachten. Man entschloss sich also zu einer Reorganisation: Das politische Handeln der Regierungen sollte von vornherein unter Geschlechtergesichtspunkten betrachtet werden. Die Statistiken sollten nach Männern und Frauen getrennt, die Auswirkungen der Gesetze auf Männer wie auf Frauen sollten geprüft werden.

Das hat den Charme, dass nicht mehr die Förder- und Almosenklasse der armen Frauen als Bild in der Diskussion erscheint, sondern die Ungleichheit als Demokratieproblem betrachtet wird. Wo Ungleichgewichte bestehen, sollte der Staat handeln, ganz einfach. Das Handeln kann dann auch heißen, dass man für mehr Männer in Kindergärten wirbt, weil sie dort unterrepräsentiert sind. Es geht um Gerechtigkeit zwischen beiden Geschlechtern.

Nachhaltigkeit, so die Umwelttechnikprofessorin Ines Weller, ist die Verpflichtung, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen und die Folgen für andere zu bedenken, etwa für die nachfolgende Generation, die ärmeren Länder des Südens – oder die Geschlechtergerechtigkeit. Auch die Weltbank liefert Argumente dafür, Nachhaltigkeit und Geschlechtergerechtigkeit zu verbinden: 2001 gab sie eine Studie heraus, in der festgehalten wurde, dass Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern die Entwicklung eines Landes hemmt.

Die EU führte das Prinzip 1992 mit dem Amsterdamer Vertrag ein, die Bundesregierung verpflichtete sich mit einem Kabinettsbeschluss vom Juni 1999 dazu. Gehört hat man seitdem nicht viel vom Gender-Mainstreaming in Deutschland, doch hinter den Kulissen tut sich durchaus etwas. Dort sitzt etwa Birgit Schweikert. Angesiedelt im Frauenministerium, koordiniert sie die Interministerielle Arbeitsgruppe (IMA), die das Gender in den bundesrepublikanischen Mainstream führen soll. In der IMA treffen sich regelmäßig Abteilungsleiter aus allen Ministerien, um das Fortkommen des Mainstreamings zu besprechen. Schweikert ist jung, engagiert und vor allem: sehr positiv. Sie nennt lieber gute Beispiele, wenn sie gefragt wird, wo es hakt. Erste Lektion: Gender-Mainstreaming ist eine Frage der richtigen Pädagogik. „Jetzt ist für die Gleichstellung auch das jeweilige Fachministerium zuständig. Das war für viele gewöhnungsbedürftig“, sagt sie. Einige Abteilungsleiter hätten sich bei der Einladung zum ersten IMA-Treffen gefragt: „Bin ich da richtig?“ Mit anderen Worten: Ist dies nicht eine Veranstaltung für unsere Frauenbeauftragte?

Ist es nicht. „Top down“ heißt das Prinzip: Die Führungsebene definiert die Ziele, nicht eine einzelne, mehr oder weniger machtlose Frauenbeauftragte. Für diese Legislaturperiode haben sich alle Ministerien verpflichtet, ihrer Leitungsebene das „GM“ nahe zu bringen und jeweils ein konkretes Modellprojekt voranzutreiben. Es wurde geschult, vorgetragen und geworkshopt: Frauen haben andere Gesundheitsprobleme als Männer, Frauen nutzen Verkehrsmittel anders als Männer, Frauen haben eine andere Stellung im Wirtschaftsleben, Frauen bevorzugen andere Sportarten. Was könnte das für die Gesundheits-, Verkehrs-, Wirtschafts- oder Sportpolitik bedeuten? Tja. „Das ist eben eine enorme intellektuelle Herausforderung“, sagt Schweikert.

Oder eine Zumutung. Wer handeln will, braucht eine Datengrundlage. Die gibt es aber oft nicht. Eine Aufschlüsselung nach Geschlecht muss man beim Statistischen Bundesamt extra bestellen. Und wie bezieht man die Geschlechterfrage in das nächste Gesetzesprojekt ein? Schweikert gibt zu: „Das ist ein umfassender Umdenkprozess.“ Anhand der Modellprojekte, so ihr Kalkül, könnten die Ministerien eine Art Handreichung entwickeln: Worauf muss man achten, wenn man ein Projekt plant? Worauf bei der Personalplanung? Worauf bei Öffentlichkeitskampagnen? Die Handreichungen der Ministerien will Schweikert bis Ende des Jahres in einem „Handbuch Gender Mainstreaming“ zusammenfassen.

„Wenn man die Bedürfnisse seiner Zielgruppen genau kennt“, wirbt Schweikert, „kann man passgenaue Politik betreiben“. Dass es auch eine Demokratiefrage ist, ob man ständig Politik an der Hälfte der Bevölkerung vorbeimacht, ist ein zusätzliches, moralisches Argument. Und schließlich verweist Schweikert auf die Tatsache, dass GM kein Spleen von Rot-Grün ist, sondern eine EU-Vorgabe.

Eine erste Bilanz soll diesen Herbst vorliegen – das ist nicht einfach, denn die Projekte sind von ihrer Anlage her „sehr unterschiedlich“, so Schweikert, diplomatisch wie immer. Das Wirtschaftsministerium etwa beschränkte sich darauf, in seinem Jahreswirtschaftsbericht 2001 die Statistiken nach Männern und Frauen aufzuschlüsseln und ihn erstmals auch mit Frauen zu bebildern. Das Innenministerium hat sich ehrgeizigere Ziele gesetzt: So wird die Bundeszentrale für politische Bildung, bisher eine Domäne älterer Herren, gänzlich durchgegendert. Sie baute eine Datenbank mit weiblichen Referentinnen auf und änderte ihre Autorenverträge: Bei allen Aufträgen sind Geschlechtergesichtspunkte zu berücksichtigen, Statistiken sind nach Männlein und Weiblein aufzuschlüsseln. Seitdem steht das Telefon der Frauenbeauftragten selten still: Wie das denn genau gehe mit der geschlechtergerechten Sprache, fragen die Fachmänner.

Andere Projekte stehen eher nur auf dem Papier: Wie das Innenministerium die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes gendern will, verrät es jedenfalls auch auf mehrmaliges Nachfragen lieber nicht. Doch viele Projekte sind tatsächlich vorzeigbar: Das Umweltministerium hat die Neuregelung der Strahlenschutzverordnung zum Anlass für ein GM genommen. Jetzt wird schwangeren Frauen nicht schlicht der Zugang zu strahlungsintensiven Arbeitsplätzen verwehrt, sondern es werden Grenzwerte für Schwangere festgelegt.

Eines der wichtigsten Projekte ist sicher eine Checkliste für Gesetze, die die Regierung vorschlägt. Kanzleramt und Frauenministerium entwickeln sie gerade. Mit ihr hätte vielleicht so manches Gesetz schon anders ausgesehen. Wie oft hatten Frauenverbände geklagt, dass die Green Card oder das Zuwanderungsgesetz quotiert werden müssten? Diese Idee wäre bei einem Gender-Check vielleicht aus dem Innenministerium selbst gekommen.

Wie es um das GM-Projekt bei einem Regierungswechsel bestellt ist, ist unklar. EU-Vorgabe hin oder her: Wenn man will, kann man das Projekt sehr schnell austrocknen. Die frisch geschulten Abteilungsleiter jedenfalls dürften bei einem solchen Wechsel ausgetauscht werden. Schweikert bleibt optimistisch: Immerhin ist das Projekt gut eingetütet, so ein Prozess lässt sich nicht einfach zurückdrehen. Und Achtung, Herr Stoiber: Frau Schweikert ist Beamtin – unkündbar.

HEIDE OESTREICH, 33, ist Redakteurin im Inlandressort der taz