Helden für jeden Tag

Studs Terkel hat mit seinen Kolumnen und Radiosendungen die amerikanische Linke stark geprägt. In „Gespräche um Leben und Tod“ befragt er Menschen nach ihren Vorstellungen vom Sterben

von HARALD FRICKE

Seine Tage hat er sich gut eingeteilt. Nach 17 Uhr gibt es zwei Zigarren und Gin-Martini, nicht zu knapp. Bei besonderen Anlässen schenkt er sich auch schon mal morgens um elf einen Scotch ein. Aber diese kleinen Freuden sind mittlerweile selten geworden für Studs Terkel. Vor drei Jahren ist seine Frau Ida, mit der er 60 Jahre verheiratet war, nach einer Herzoperation gestorben, und die Beerdigungen im Bekanntenkreis nehmen rapide zu. Mit seinen 90 Jahren weiß er, dass er bald schon der Letzte seiner Generation sein dürfte.

Terkel weiß aber auch, dass etwas von ihm zurückbleiben wird, wenn er stirbt. In der Chicago-Sun schreibt er eine Kolumne, auf Chicagos WMFT-Radiostation hat er 45 Jahre lang eine Livesendung moderiert. Fünfmal die Woche, jeweils eine Stunde, da kommen einige Kilometer an archivierten Tonbändern zusammen. Er hat mit der amerikanischen Starchoreografin Martha Graham gesprochen, mit dem britischen Philosophen Bertrand Russell und mit Albert Luthuli, der bei der südafrikanischen ANC-Partei der Vorgänger von Nelson Mandela war. Bill Clinton hat er auch getroffen, aber nur kurz, 1997, als der US-Präsident ihn mit dem nationalen Orden für besondere humanitäre Verdienste auszeichnete.

Den Orden hat er nicht bloß als unbeugsamer Radiomoderator bekommen, der in der Mc-Carthy-Zeit wegen seiner Ansichten ausgemustert werden sollte. Vor allem sind da noch seine Bücher: neun Veröffentlichungen von 1967 bis heute, dazu die 1971 erschienene Autobiografie „Talking To Myself“. Ein guter Titel für einen Mann, der als Amerikas bester Journalist in Sachen Interviews gilt – spätestens seit er 1985 den Pulitzer-Preis für „The Good War“ erhielt, ein Gesprächsband mit Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg. Für das englische Original von „Will the circle be unbroken?“, das jetzt auf Deutsch als „Gespräche um Leben und Tod“ erschienen ist, hat er – lange vor dem 11. September – Dutzende Menschen nach ihren Vorstellungen vom Sterben und ihrer Suche nach Glauben befragt. Ein wenig hat man die Befürchtung, dass nach diesem Interviewmarathon Schluss sein könnte, auch wenn Terkel noch an zwei weiteren Projekten arbeitet, darunter „The Listener“, eine Gesprächssammlung mit berühmten Musikern aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren.

Bei aller Vitalität, mit der der vergnügte Greis im Intro seines neuen Buches Witze über das Altwerden macht, sind die Schicksale, die dann folgen, ein stetiger Weg nach unten. Unsagbar traurig rührt einen die Schilderung eines Sanitäters an, der beschreibt, wie ein Sterbender ihm ins Gesicht blickt und womöglich gar nicht weiß, dass dies das letzte menschliche Antlitz in seinem Leben gewesen sein wird. Der Arzt einer anderen Notaufnahme wiederum erklärt, wie er Hinterbliebene darauf vorbereitet, wenn jemand in der Familie gestorben ist. Statt behutsam auf sie einzureden, sagt er lieber direkt die Wahrheit, weil „sie den Verlust sonst gar nicht wahrnehmen“. Die nüchterne Härte angesichts der Tatsachen ist Teil seiner Menschenkenntnis, keine Déformation professionelle. Zugleich spürt man bei ihm eine ungeheure Zuneigung, wenn er kurz darauf erzählt, wie er etwa eine Mutter bittet, ihren toten Sohn noch einmal zu umarmen, damit sie in der Berührung ein Gefühl für diesen letzten Moment behält, bevor ihr nur noch Bilder als Andenken bleiben.

Obwohl sich Terkel selbst als „Atheisten aus Feigheit“ bezeichnet, laufen alle seine Gespräche über das Sterben auf die eine Frage hinaus: Wie hältst du es mit dem Glauben? Offenbar scheint das Wissen um den Tod da doch nicht alle zu einen. Selbst Priester haben ihre Bedenken, weil doch im Himmel nicht alles sein kann wie auf Erden: Sünde hin, Liebe her – wer mehrmals geheiratet hat, müsste sich schlimmstenfalls auf ein Nachleben in Bigamie einrichten. Das aber kann nicht Gottes Wille sein!

In solchen blitzartigen Augenblicken staunt man über so viel Pragmatismus, gerade im puritanischen Amerika. Es zeugt aber auch von der Geduld, mit der Terkel die Menschen anscheinend reden lässt, ohne ihnen Widersprüche nachweisen zu wollen. Nur so wird selbst ein Gespräch über Glaubensfragen zu einem offenen Dialog, in dem der Leser schnell an die Stelle von Terkel tritt. Ohne unterbrochen zu werden, schildert die Afroamerikanerin Mamie Mobley noch einmal, wie 1955 ihr Sohn Emmett Till von weißen Rassisten zu Tode geprügelt wurde und sie seinen bis zur Unkenntlichkeit entstellten Körper in einer Holzkiste identifizieren musste. Dass sie das, was sie damals sah, in all den Jahren nie verarbeitet hat, merkt man in jedem Satz. Dass sie der Anblick ihres ermordeten Kindes an Jesus Christus erinnert hat, „der für unsere Sünden gestorben ist“, zeugt dagegen von einem Glauben, der nicht bloß eine Trutzburg gegen die grausame Welt ist. Tatsächlich wurde das seinerzeit veröffentlichte Foto der Leiche von Emmett Till zum Schreckensbild für die Unterdrückung der Afroamerikaner, gegen das sich die Bürgerrechtsbewegung formierte. So fallen Heils- und Befreiungsgeschichte zusammen. Es ist diese Engführung, mit der Terkel ohne peinliches Kirchgangspathos das Ideal einer alle Rassen, Klassen und Geschlechter vereinenden Religionsgemeinschaft aufspürt.

In Deutschland wurde Studs Terkel durch sein Zeitzeugenbuch über die Jahre der „Great Depression“ anfang der 70er-Jahre als Vorreiter einer neuen oral history bekannt, 1980 veröffentlichte der Wagenbach Verlag Interviews, die Terkel zum amerikanischen Traum geführt hatte. Im Vorwort wurde von der ungeschminkten „Widerspiegelung“ des amerikanischen Lebens geschwärmt, nicht ohne auf die darin lauernden Gefahren hinzuweisen: „Für das Abklopfen auf falsches Bewusstsein hin bleibt Gelegenheit genug.“

Wer das Buch als ideologisches Aufputschmittel im Gemeinschaftskunde-Unterricht las, stellte mit Erstaunen fest, dass Terkel nur selten fragen musste. Dafür redeten die Leute viel und ihre Antworten schillerten im Monolog umso mehr. So konnte man von Arnold Schwarzenegger erfahren, dass ihm bei seiner Karriere als Mister Universum keine Gefühle dazwischenkommen dürfen, „sonst denkt man gleich an seine Freundin. Bist du erst verliebt, schon sind deine besten Kräfte abgelenkt von den Hanteln und vom Geldverdienen.“ Nach diesem Fahneneid auf den Kapitalismus hat es Jahre gedauert, in denen man auf der Leinwand nur den unangenehmen Streber aus der Steiermark sah, bevor aus ihm ein Mr. Nice Guy named Arnie wurde. Irgendwann wird eben jeder Jäger des falschen Bewusstseins einmal müde.

Nur nicht Studs Terkel. Seit 1967 hat er in seinen Büchern mit über 500 Personen (und tausenden Unbekannten mehr – nicht jeder Talk macht als Text auch Sinn) darüber gesprochen, wie sie das Leben in Amerika empfinden, was es ihnen bedeutet und was sie daran verachten. Als mit „Division Street“ 1967 sein Debüt über Chicago erschien, waren die Themen eng gefasst, akut und sehr politisch: Bürgerrechtsbewegung, Vietnam, Atombombe.

Wie kein anderes Buch seiner Zeit zeichnet Terkels mit der Befragung die Realität auch als eine Allegorie der „Melting Pot“-Erfahrung in den USA auf: Latinos, Appalachen-Indianer, Afroamerikaner, streng katholische Christen und drogenabhängige Prostituierte, italienischstämmige Haushaltswarenvertreter und irische Stahlarbeiter – sie alle redeten, eine diffuse Angst vor der Zukunft im Nacken, während Terkel den Kassettenrekorder laufen ließ, manchmal nachhakte, wenn die Erinnerungen unscharf wurden, und vor allem schweigsam zuhörte. Was bislang zum Repertoire der Ethnografie gehörte, wurde plötzlich auch in der Wahrnehmung des urban jungle zum Wegmesser.

Erst in der Addition kommt das fiktive Kollektiv zu sich, das in der Abfolge aus Wünschen, Enttäuschungen, Chancen zum sozialen Aufstieg und Verfehlungen entsteht. Dann ergänzen sich der raubeinige Feuerwehrmann, der früher ein Schläger war und daher auch die Rebellion der Jugendlichen in den Ghettos versteht, und die furchtsame Lehrerin, die den Konflikt zwischen Schwarz und Weiß bereits im Schulsystem angelegt sieht. Terkel verzichtet dabei auf jede Literarisierung. Zudem lässt er bis heute kaum Vertreter der Kirchen, Professoren, Journalisten und Schriftsteller zu Wort kommen, weil sie, wie er im Nachwort zu „Division Street“ schrieb, über andere Foren verfügen und „auf meine Vermittlerdienste nicht angewiesen sind“. Das hat ihm schon früh einiges Lob im Osten eingebracht. In der DDR wurde 1987 seine „Working“-Anthologie mit dem Verweis auf Marx und Engels herausgebracht, denn „die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken“ – außer bei Studs Terkel. Nicht von ungefähr waren dort Sarah Kirsch und Maxie Wander mit ihrer Interview-Literatur, jenem „Halbfabrikat“ aus Geschichtsmaterialismus und privatem Eigensinn, lange Zeit Bestseller. Und der Westen Deutschlands hatte Erika Runge mit ihren „Bottroper Protokollen“ über „Clemens K., Betriebsschlosser“ oder „Ernst, 66, Gärtner“.

Doch gegenüber dem sozialistischen Bekenntnisrealismus der Siebzigerjahre aus beiden deutschen Staaten sind Terkels Erkundungen made in und out of USA sehr viel unterhaltsamer. Es mag daran liegen, dass in Amerika eine gute Performance für den Stellenwert in der Gesellschaft unabdingbar ist. Irgendwie kann hier jeder über sein Leben rappen, als würde am Ende des Gesprächs noch ein Plattenvertrag winken. Immer wieder wird man jedenfalls von der Lebhaftigkeit der Gespräche mitgerissen, erscheint etwa die verpfuschte Ehe eines Ladenbesitzers für Billigwaren als authentisch, selbst wenn er davon redet, dass seine geschiedene Frau ihn ständig mit dem Revolver bedrohte und er sie am liebsten mit dem Lkw überfahren hätte. Scheinbar kann sich jeder der Befragten im Rausch der Rede federleicht über die Verhältnisse erheben und, mit Slavoj Žižek gesprochen, sich selbst als Symptom einer nur in Bildern und Images existierenden Welt lieben lernen. Dann sind sie Helden für jeden Tag.

Ein Witz, den Terkel über das Altwerden gerne erzählt, geht übrigens so: „Die Leute fragen immer: Wer will schon 90 Jahre alt werden? – Na diejenigen, die 89 sind!“ Im Mai ist er selbst 90 geworden. Mal sehen, was er sich als Nächstes vornimmt.

Studs Terkel liest am 9. 9. in Berlin, am 10. u. 11. 9. in München, am 12. 9. in Köln und am 13. 9. in Hamburg