Liebe, Mitleid und Kapitalismus

Schriften zu Zeitschriften: „Akzente“ trägt im Themenheft „Tradition“ die neue deutsche Literatur zu Grabe

Die junge Literaturder Neunzigerjahre war erfolgreich, aber nicht fortschrittlich

Vor einigen Monaten erschien ein Buch mit dem Titel „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur“. Der Verfasser Heinz Schlaffer erklärte darin unter anderem, dass es seit den Fünfzigerjahren in Deutschland keine Literatur von Bedeutung mehr gebe. Für diese lässige Geste erntete er viel Beifall. Das ist ein Symptom, behauptet Norbert Niemann in der aktuellen Ausgabe der Akzente: Mit solcher Euphorie werde heute jeder Versuch begrüßt, einen Schlussstrich unter ein Kapitel der Kulturgeschichte zu ziehen.

Das „erleichterte Aufatmen“, das das Erscheinen der „Kurzen Geschichte der deutschen Literatur“ begleitete, ist durchaus dem Stoßseufzer verwandt, der sich durch das von Norbert Niemann, Georg M. Oswald und Wolfgang Matz herausgegebene Akzente-Themenheft „Tradition“ zieht. In einem nämlich ist sich die Mehrzahl der Autoren einig: Gerade ist ein Kapitel der deutschen Literaturgeschichte von uns gegangen. Die einen wollen „Popliteratur“ auf den Grabstein gemeißelt sehen, die anderen „neue deutsche Literatur zwischen 1995 bis 2001“. Eine Träne will ihr niemand nachweinen: „Mitleid ist nicht angezeigt“, findet Oswald, schließlich sei es nur darum gegangen, den „jungen deutschen Autor“ zum Markenartikel hochzuschreiben, auf die „Reklameförmigkeit von Sätzen und ganzen Büchern“ kann Matz gerne verzichten, und Julie Zeh, Jahrgang 1974, tut ihren älteren Kollegen den Gefallen, sich flugs in Selbstkritik zu üben: „Wir kreisen um unsere Person.“ Julie Zeh hat Sehnsucht nach einem auktorialen Erzähler.

„Tradition“, das heißt: Es ist an der Zeit, sich wieder auf Traditionen zu besinnen. Die Herausgeber finden das offenbar pfiffig. Welche Traditionen – außer dem auktorialen Erzählen – in den letzten Jahren verabschiedet wurden, erfährt man allerdings nicht. Mit gutem Grund. Schließlich war die deutsche Literatur der Neunziger zwar erfolgreich, keinesfalls aber besonders fortschrittlich. Das Motiv der „lost generation“ beispielsweise, das am eindrücklichsten wohl in Christian Krachts „Faserland“ und Joachim Bessings „Tristesse Royale“ ausgearbeitet wurde, hat eine Geschichte, die bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts zurückreicht – und in Zoë Jennys „Blütenstaubzimmer“ und Judith Hermanns „Sommerhaus, später“ wird man, so zeitnah der Inhalt auch ist, vor allem eines entdecken: traditionelle Formen des Erzählens.

Schnell bekommt man darum den Eindruck, dass die Akzente-Herausgeber nur auf einen Anlass gewartet haben, um die bekannten Ressentiments gegenüber dem Buchmarkt die „Tendenz zur konsumistischen Kulturbarbarei“ (Norbert Niemann) noch einmal aufzuwärmen. Ob man dieser Tendenz nun mit „Engagement“ (Georg M. Oswald) oder einem „Anfang“ (Wolfgang Matz), mit „Thomas Mann“ (Michael Lentz) oder „James Joyce“ (Patrick Roth) entgegentreten will – das eigentliche Problem geht innerhalb dieses programmatischen Sammelsuriums unter. Der kulturelle Traditionsverlust, das heißt der Verlust einer Sinn stiftenden Überlieferung, hat ja weniger die Schriftsteller und Schriftsteller als ihre Kritiker und Kritikerinnen getroffen. Die perspektivische Sicherheit, die ein mehr oder weniger verbindlicher Kanon „großer Werke“ einst versprochen hatte, ist längst dahin. Die Literaturkritik hat sich darum in den Neunzigerjahren immer mehr auf außerliterarische Kriterien verlassen. Trends wollten erkannt, gefeiert und beendet, Vorschüsse diskutiert, Berlin-, Wende- und Provinzromane eingefordert und zurückgewiesen werden.

In einem äußerst lehrreichen Beitrag führt Norbert Kron in Akzente nun vor, wie Literaturkritik von der Rekonstruktion einzelner Traditionslinien profitieren kann. Er skizziert den Verlauf der „Krise des Liebesromans“ von einer Zeit, in der Ehebruch noch ein zutiefst schuldhaftes und darum handlungsstiftendes Vergehen war, bis zur Gegenwart, in der im Zuge der sexuellen Revolution der Seitensprung längst akzeptiert ist: Liebe wird zur Mangelware.

Nachdem Kron diesen Überlieferungszusammenhang von Goethes „Wahlverwandtschaften“ über Vladimir Nabokovs „Lolita“ bis hin zu Michel Houellebecqs letztem Roman „Plattform“ nachgezeichnet hat, macht er eine interessante Beobachtung. Mit der Liebe ist auch der Tod, insbesondere der Liebestod, aus der Gegenwartsliteratur verschwunden: „Die Selbstaufopferung zugunsten höherer Interessen dagegen ist für die auf Selbstverwirklichung ausgerichtete Marktgesellschaft das Unbegreifbare schlechthin.“ Wo man wieder beim Kapitalismus wäre. Aber diesmal weiß man, wie man dort angelangt ist: auf dem Weg einer „traditionellen“ Literaturkritik. KOLJA MENSING

„Akzente“, 49. Jahrgang, Heft 4. Hanser, München 2002. 7,30 €